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STEPHENIE MEYER

ZUM MORGENGRAUEN

Aus dem Englischen von Karsten Kredel

Für meine große Schwester Emily, ohne deren Begeisterung diese Geschichte vielleicht immer noch nicht vollendet wäre.

Nur von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, von dem darfst du nicht essen; denn sobald du davon issest, musst du sterben.

Mose 2,17

VORWORT

Ich hatte mir nie viele Gedanken darüber gemacht, wie ich sterben würde, obwohl ich in den vergangenen Monaten allen Grund dazu gehabt hätte. Und wenn, wäre meine Vorstellung ohnehin eine andere gewesen.

Mein Blick war auf die dunklen Augen des Jägers geheftet, der am anderen Ende des langgezogenen Raumes stand und mich freundlich betrachtete. Ich atmete nicht.

Es war ganz sicher eine gute Art zu sterben – an Stelle eines anderen, eines geliebten Menschen. Es war sogar edel. Das musste etwas wert sein.

Wäre ich nicht nach Forks gegangen, würde ich jetzt nicht dem Tod ins Auge blicken, das stand fest. Doch trotz meiner Angst konnte ich mich nicht dazu bringen, die Entscheidung zu bereuen. Wenn einem das Leben einen Traum beschert, der jede Erwartung so weit übersteigt wie dieser, dann ist es sinnlos zu trauern, wenn er zu Ende geht.

Der Jäger lächelte und kam ohne Eile auf mich zu, um mich zu töten.

AUF DEN ERSTEN BLICK

Meine Mutter fuhr mich mit heruntergelassenen Scheiben zum Flughafen. Es war warm in Phoenix, 24 Grad, und über uns spannte sich ein makellos blauer, wolkenloser Himmel. Ich hatte meine Lieblingsbluse an, ärmellos, mit weißer Lochspitze – es war eine Art Abschiedsgeste. Mein Handgepäck bestand aus einem Parka.

Auf der Halbinsel Olympic im Nordwesten von Washington State liegt unter einer selten aufreißenden Wolkendecke eine bedeutungslose, kleine Stadt namens Forks. In ihr regnet es mehr als in jedem anderen Ort der Vereinigten Staaten von Amerika. Von dort – fort aus dem ewig trüben Dämmerlicht – floh meine Mutter mit mir, als ich gerade mal ein paar Monate alt war. Dort hatte ich Jahr für Jahr einen Monat meiner Sommerferien verbringen müssen, bis ich vierzehn wurde – dann setzte ich mich endlich durch, und in den vergangenen drei Jahren machte Charlie, mein Vater, stattdessen zwei Wochen Urlaub in Kalifornien mit mir.

Dorthin, nach Forks, ging ich jetzt ins Exil, und zwar mit Schrecken. Ich hasste Forks.

Und ich liebte Phoenix. Ich liebte die Sonne und die glühende Hitze. Ich liebte die betriebsame, schier endlos wuchernde Stadt.

»Bella«, sagte meine Mom, bevor ich durch die Absperrung ging, zum hundertsten und letzten Mal – »du musst nicht, wenn du nicht willst.«

Meine Mom sieht genauso aus wie ich, nur mit kurzen Haaren und Lachfalten. Ich spürte, wie mich die Panik durchzuckte, als ich in ihre großen, kindlichen Augen schaute. Meine liebevolle, unberechenbare, durchgeknallte Mutter – wie konnte ich sie nur sich selbst überlassen? Klar, sie hatte jetzt Phil, also würden die Rechnungen wohl bezahlt werden, es würde was zu essen im Kühlschrank sein und Benzin im Tank. Und es gab jemanden, den sie anrufen konnte, wenn sie sich verirrte. Trotzdem …

»Ich will aber«, beteuerte ich. Ich war immer eine miserable Lügnerin gewesen, doch diesen Satz hatte ich in letzter Zeit so häufig wiederholt, dass er mittlerweile beinahe überzeugend klang.

»Grüß Charlie von mir«, sagte sie resignierend.

»Mach ich«, antwortete ich.

»Wir sehen uns bald«, beteuerte sie. »Du kannst immer nach Hause kommen – ich bin hier, wenn du mich brauchst.«

Aber in ihren Augen konnte ich sehen, welches Opfer sie dieses Versprechen kostete.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich bestimmt. »Das wird super. Ich liebe dich, Mom.«

Sie hielt mich eine Weile fest umarmt, dann ging ich weg und sie war verschwunden.

Der Flug von Phoenix nach Seattle dauert vier Stunden, dann geht es noch mal eine Stunde in einem kleinen Flugzeug hoch nach Port Angeles, und eine weitere Stunde mit dem Auto runter nach Forks. Das Fliegen machte mir nichts aus, aber vor der Fahrt mit Charlie hatte ich ein bisschen Bammel.

Charlie hatte ziemlich gut reagiert auf die ganze Geschichte. Er schien sich wirklich zu freuen, dass ich zum ersten Mal halbwegs langfristig bei ihm wohnen würde, hatte mich schon in der Schule angemeldet und wollte mir dabei behilflich sein, ein Auto zu finden.

Das Problem war, dass es nicht viel gab, worüber wir reden konnten; wir waren beide keine großen Plaudertaschen. Ich wusste, dass ihn meine Entscheidung enorm verwirrte – wie meine Mutter hatte ich nie einen Hehl aus meiner Abneigung gegen Forks gemacht.

Bei der Landung in Port Angeles regnete es. Ich nahm es nicht als ein böses Omen, sondern schlicht als unvermeidlich. Von der Sonne hatte ich mich bereits verabschiedet.

Charlie kam mich mit dem Streifenwagen abholen. Auch damit hatte ich gerechnet. Die braven Bürger von Forks kennen Charlie nämlich als Chief Swan, den örtlichen Hüter des Gesetzes. Deswegen wollte ich unbedingt mein eigenes Auto, obwohl ich knapp bei Kasse war: Ich hatte keine Lust, in einem Wagen mit roten und blauen Lichtern auf dem Dach durch die Stadt chauffiert zu werden. Nichts hält den Verkehr so sehr auf wie ein Polizist.

Ich stolperte aus dem Flugzeug, und Charlie drückte mich unbeholfen mit einem Arm an sich.

»Schön, dich zu sehen, Bells«, sagte er lächelnd, während er mich mit einer automatischen Bewegung auffing und stützte. »Du hast dich kaum verändert. Wie geht’s Renée?«

»Mom geht’s gut. Ich freu mich auch, dich zu sehen, Dad.« Er wollte nicht, dass ich ihn Charlie nenne.

Und damit war unser Gespräch auch schon fast wieder beendet. Ich hatte nur ein paar Taschen dabei. Die meisten meiner Arizona-Klamotten waren untauglich für Washington – nicht wasserfest. Mom und ich hatten unser Geld zusammengelegt, um meine Wintergarderobe aufzustocken, aber sie war trotzdem noch dürftig. Es passte alles problemlos in den Kofferraum des Streifenwagens.

»Ich hab ein gutes Auto für dich bekommen, ganz billig«, verkündete er, als wir angeschnallt waren.

»Was denn für eins?« Ich war misstrauisch, weil er »ein gutes Auto für dich« gesagt hatte anstatt nur »ein gutes Auto«.

»Genauer gesagt, einen Transporter – einen Chevy.«

»Woher hast du den?«

»Erinnerst du dich noch an Billy Black aus La Push?« La Push ist das winzige Indianerreservat an der Küste.

»Nein.«

»Er war im Sommer immer mit uns angeln«, versuchte mir Charlie auf die Sprünge zu helfen.

Das würde erklären, warum ich mich nicht an ihn erinnerte. Wenn es darum geht, schmerzhafte Erinnerungen aus meinem Gedächtnis zu streichen, bin ich echt gut.

»Er sitzt jetzt im Rollstuhl«, fuhr Charlie fort, als ich nicht reagierte. »Er kann nicht mehr Auto fahren, also hat er mir ein gutes Angebot gemacht.«

»Welches Baujahr?« Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war das die Frage, von der er gehofft hatte, ich würde sie nicht stellen.

»Billy hat ’ne Menge am Motor rumgebastelt – er ist eigentlich nur ein paar Jahre alt.«

»Wann hat er ihn denn gekauft?« Er glaubte doch wohl nicht, dass ich so schnell aufgab.

»Gekauft hat er ihn, glaub ich, 1984.«

»Neu?«

»Das nicht. Neu war er Anfang der Sechziger, würde ich sagen – oder frühestens in den späten Fünfzigern«, gab er verlegen zu.

»Aber Dad, ich hab nicht die geringste Ahnung von Autos. Wenn was kaputtgeht – ich krieg das nie wieder hin, und eine Reparatur kann ich mir nicht leisten …«

»Ehrlich, Bella, das Ding läuft wie geschmiert. So was wird heute gar nicht mehr gebaut.«

Das Ding. Das ist doch was, dachte ich mir – einen Namen hatte es schon mal.

»Was verstehst du denn unter billig?« Um mal zu dem Punkt zu kommen, bei dem ich keine Kompromisse machen konnte.

»Also, eigentlich hab ich ihn dir schon gekauft. Als Begrüßungsgeschenk.« Charlie warf mir einen hoffnungsvollen Seitenblick zu.