Eine halbe Stunde später sah Geary mit an, wie die Eingreiftruppe an den ohnehin schwer in Mitleidenschaft gezogenen Werften vorbeiflog und zuvor verfehlte Ziele mit präzisem Beschuss durch Höllenspeere ausradierte. Zehn Minuten später, als die Syndik-Schlepper längst die Verbindung zu ihrer Schlepplast gekappt hatten und sich in Sicherheit zu bringen versuchten, zerstörte die Eingreiftruppe das Schlachtschiff und den Schlachtkreuzer, während die leichtesten Einheiten sich von der Truppe lösten und den Schleppern folgten, um sie so mühelos zu vernichten, als würden sie mit einer Klatsche nach einer lästigen Fliege schlagen.
Geary wandte seine Aufmerksamkeit von Cresidas Eingreiftruppe ab, da er wusste, dass nichts von dem, was ihre Schiffe noch bewirken konnten, einen Einfluss auf die entscheidende Schlacht um das Sancere-System haben würde. Diese Schlacht fand dort statt, wo sich die Syndik-Streitmacht Bravo noch immer aufhielt: nahe dem Hypernet-Portal.
Noch eineinhalb Stunden bis zum Kontakt, sofern die Syndiks nicht doch noch zum Angriff übergingen und die Zeitspanne verkürzten.
Und weniger als zwei Stunden bis zu dem fast sicheren Moment, an dem jeder im Sancere-System erfahren würde, was geschah, wenn ein Hypernet-Portal zerstört wurde.
»Captain Desjani«, fragte Geary. »Wieso hat eigentlich bislang noch niemand versucht, ein Portal zu zerstören? Ich weiß aus den Aufzeichnungen über den Krieg, dass Systeme nahe dem Feindgebiet angegriffen und eingenommen wurden, die über Portale verfügten. Warum wurden die Portale in diesen Systemen nicht zerstört?«
Die Frage schien Desjani zu überraschen. »Der Feind konnte bislang ein Portal der anderen Seite nicht benutzen. Das hier ist das erste Mal, dass eine Seite den Schlüssel zum Hypernet des Gegners besitzt.«
»Ja, aber der Feind kann doch das Portal weiterhin nutzen, um Verstärkung zu schicken oder um einen Gegenangriff zu starten, weil er das System zurückerobern will.«
»Ja, Sir.« Desjani schien zu glauben, dass eine Erklärung nicht erforderlich war.
Dann begann Geary der Grund zu dämmern. Er hatte nicht wie diese modernen Kämpfer gedacht. »Sie wollen, dass der Feind sich zeigt, richtig?«
»Natürlich, Captain Geary. Der Zweck einer offensiven Aktion ist der, dem Feind zu begegnen und ihn zu vernichten«, antwortete sie, als rede sie über etwas, das jeder wusste. »Alles, was den gegnerischen Streitkräften den Weg zu uns erleichtert, dient dem Zweck, den Gegner in Gefechte zu locken. Ein funktionierendes feindliches Portal ist ein Garant für eine Schlacht.«
»Ja, richtig.« Wenn man den Krieg auf sein grundlegendstes Element reduzierte, dann war es das: Töte den Feind. Angesichts dieser Denkweise war es nur logisch, ein feindliches Hypernet-Portal unangetastet zu lassen. Schließlich würden weitere Gegner über diesen Weg ins System kommen, die man alle zu töten versuchen konnte. Der Feind konnte zwar durch das Portal schneller Verstärkung schicken, als man sie selbst herbeiholen konnte, aber mehr Gegner bedeuteten ja auch mehr Ziele, auf die man schießen konnte. Kein Wunder, dass sie solche Verluste erlitten haben. Ihnen ist nicht nur die Expertise auf dem Schlachtfeld abhandengekommen, es liegt auch an dieser Einstellung, die das Töten über das Siegen stellt. Sie haben vergessen, dass ein klug errungener Sieg mehr Feinden das Leben kosten kann, als wenn man versucht, sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen.
Zum sicherlich hundertsten Mal betrachtete Geary auf dem Display die Formation seiner Flotte, und wieder fragte er sich, wie er mit einem zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Gegner umgehen sollte, der die Flotte in seine Nähe zu locken versuchte. Auch jetzt kam er nur auf eine Lösung, die allerdings nicht narrensicher war. »Wir werden die Flotte aufteilen müssen.«
Desjani nickte und ließ keine Besorgnis erkennen.
Er fällte eine Entscheidung, da er wusste, dass er ansonsten noch bis in alle Ewigkeit grübeln würde, weil es nicht den einen, eindeutig richtigen Weg gab, um diese Situation anzugehen. An seinem Display arbeitete er daran, die Flotte in sechs Sektionen zu zerlegen, die jeweils eine Mischung aus großen Schiffen und Eskorten enthielten.
»Sechs Sektionen?«, fragte Desjani sichtlich erstaunt.
»Ja, ich möchte vermeiden, dass wir das kompakte Ziel abgeben, auf das die Syndiks hoffen. Und ich will in der Lage sein, unsere gesamte Feuerkraft gegen sie zum Einsatz zu bringen, was ich nicht machen kann, wenn wir in einem großen Pulk fliegen, bei dem die hinteren Schiffe keinen Kontakt zum Feind haben.« Geary zögerte kurz, bediente dann aber die Kontrolle, mit der seine Befehle an die Flotte gesendet wurden. »An alle Einheiten der Allianz-Flotte, hier spricht Captain Geary. Befehle für eine neue Formation gehen soeben an Ihre Einheiten raus. Ausgeführt wird die Formation bei Zeit zwei null. Ich beabsichtige, dass jede Formation Angriffe auf die Syndik-Streitmacht Bravo ausführt, bis die entweder die Flucht ergreift oder komplett aufgerieben ist.«
Desjani sah sich die Befehle auf ihrem eigenen Display an und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Sechs Formationen. Jede fliegt einen Angriff auf die Syndiks, beschreibt dann einen Kreis und kehrt zu den anderen zurück, während die nächste Formation bereits auf dem Weg ist. Wie ein großes Rad. Und wenn die sich nicht von der Stelle rühren, werden sie von uns einfach in Stücke geschossen.«
»So ist es gedacht«, bestätigte er.
»Sie haben die Dauntless der Formation Delta zugeteilt«, fiel ihr auf.
»Richtig.« Er merkte Desjani an, dass sie ein wenig gekränkt war, drei anderen Formationen den Vortritt lassen zu müssen. »Ich glaube, während der ersten drei Wellen werden die Syndiks weiter abwarten. Wenn sich die vierte Formation nähert, werden sie vermutlich irgendeine Reaktion zeigen, und wenn das passiert, möchte ich mit der Dauntless dabei sein.« Bei diesen Worten begann Desjani zufrieden zu lächeln, und die gleiche Reaktion zeigten die Wachhabenden auf der Brücke. Geary verspürte daraufhin leichte Schuldgefühle, da er in Wahrheit ganz andere Motive für sein Handeln hatte. Seiner Ansicht nach sprach vieles dafür, dass die Syndiks die ersten drei Wellen nicht überleben würden, und das war ganz nach seinem Sinn, da er die Verpflichtung hatte, vor allem die Dauntless und mit ihr den Hypernet-Schlüssel der Syndiks sicher ins Allianz-Gebiet zu bringen. Die Chancen standen gut, dass die Dauntless bei der vierten Angriffswelle nur noch durch die Überreste der Syndik-Flotte fliegen würde.
Es sei denn, die Dinge nahmen eine Wendung zum Schlechten, und die Syndiks eröffneten das Feuer auf das Hypernet-Portal. Wenn das der Fall war, wusste Geary, dass er an vorderster Front sein musste.
»Kinetische Salven nähern sich«, meldete der Waffen-Wachhabende fast schon gelangweilt. Sie waren mittlerweile einem halben Dutzend Versuchen der Syndiks ausgewichen, sie zu beschießen. Die Geschosse waren so lange im Voraus zu sehen, dass minimale Kurskorrekturen genügten, um ihnen auszuweichen. »Abgefeuert von den Verteidigungsanlagen des Portals.«
»Denen werden wir noch früh genug Kopfzerbrechen bereiten«, freute sich Desjani.
Einen Moment lang fragte Geary sich, woran sie Spaß finden würde, wenn der Krieg plötzlich endete und das Töten von Syndiks nicht länger einen akzeptierten Zeitvertreib darstellte.
Bei Zeit zwei null schalteten sich die Steuersysteme der Dauntless ein und bewegten das Schiff an jene Position, an der sich der Rest der Formation Delta um sie scharen würde. Auch ringsum setzten sich die Schiffe in Bewegung und nahmen ihre zugewiesenen Positionen ein, was so wirkte, als hätte sich eine gigantische Maschine soeben selbst in ihre Einzelteile zerlegt. Die Teile trieben durchs All, bildeten komplexe Muster, und dann fügte sich die Maschine zu sechs kleineren Maschinen zusammen, die alle wie Miniaturausgaben des großen Originals aussahen.