„Wenn du dir eine Beute ausgesucht hast, dann ist und bleibt sie deine Beute.“ Dingo sah zur Seite, wo der schlaksige Proof stand und ihn verrückt angrinste, während er begeistert auf der Stelle tänzelte. Dingo schüttelte den Kopf. Entweder war der Freak wieder auf Speed, oder er hatte Junkies verspeist. Dabei hatte er es ihm sicher tausend Mal gesagt…
Unten in der U-Bahnstation zog die junge Frau ihren Mantel enger um sich, als sie die Treppe zum Bahnsteig hinunterging. Ihr Name war Abigail, und sie war auf dem Heimweg. Als sie sich dem Bahnsteig näherte, ging sie etwas schneller, froh darüber, dass ein langer, harter Tag endlich vorüber war.
Der schlecht beleuchtete Bahnsteig hatte etwas Deprimierendes an sich. Graffiti im Manga-Stil überzogen den an der Wand festgemachten Fahrplan, und Abfall bedeckte den Gleiskörper wie eine Schneeschicht. Es stank nach Ammoniak. Über der Digitaluhr hing eine tote Taube im Drahtgeflecht der Decke. Sie hatte sich hoffnungslos in dem Maschendraht verfangen, ihre leeren Augenhöhlen schienen vorwurfsvoll nach unten zu blicken.
Abigail schauderte, während sie sich einen Platz suchte, um an diesem zugigen Ort die Wartezeit zu überbrücken. Die Station war menschenleer, was bedeutete, dass sie entweder früh dran war oder gerade eben eine Bahn verpasst hatte.
Typisch.
Abigail sah sich um und entdeckte eine Sitzbank. Sie trug ihre schweren Einkaufstaschen dorthin und setzte sich. Es war ohnehin schon kalt, doch die Bank – die aus Metall gefertigt war, um Penner abzuschrecken und Vandalen keine Chance zu geben – war so eisig, dass es Abigail so vorkam, als würde sie ihr die Körperwärme noch schneller entziehen. Sie wollte einfach nur noch nach Hause.
Abgesehen von der Kälte machte ihr auch der Hunger zu schaffen. Ihre Gedanken schweiften ab und gingen noch einmal die Ereignisse des abgelaufenen Tages durch. Die Arbeit war anstrengend gewesen, aber wenigstens hatte sie auf dem Weg zur Bahn auf dem Markt noch ein paar Pfand überreifer Tomaten günstig erstehen können, die sie für einen schönen heißen Eintopf verwenden konnte. Mit dieser Menge Tomaten würde sie einige Tage auskommen, und das war es wert, sie acht Blocks weit bis zur U-Bahn zu tragen.
Abigails Magen knurrte, als sie überlegte, was sie mit den Tomaten alles machen konnte. Vielleicht würde sie ein paar von ihnen aufschneiden, dazu ein paar Champignons und Zwiebeln, um einen großen Topf Pasta Mediterrana zuzubereiten, wie ihre Mutter ihn immer gemacht hatte. Aus den Resten ließ sich für morgen eine köstlich dicke Tomatensuppe kochen, die sie im Kühlschrank länger aufbewahren konnte, falls sie nicht alles schaffen sollte.
Anschließend würde sie heiß duschen, um den Geruch der Stadt aus ihren Haaren zu bekommen, dann würde sie früh zu Bett gehen, damit sie sich vom Stress der letzten Woche erholen konnte. Immerhin musste sie morgen wieder früh aufstehen, um…
Ein lautes Rascheln riss sie aus ihren Gedanken, sie blickte auf, doch es war niemand zu sehen.
Sie beugte sich auf ihrer Bank nach vorn, um bis zu den Säulen am Bahnsteigaufgang sehen zu können. Alles war menschenleer. Ihr schauderte ein wenig, und sie schob die Fingerspitzen unter die Nylongurte ihrer Babytrage, um sie ein Stück weiter auf ihren Schoß zu verlagern. Der elastische Gurt brachte sie noch um. Wo zum Teufel blieb bloß der Zug?
Ihr Blick ging zu der Digitaluhr, doch die war um zwölf Minuten nach Mitternacht stehen geblieben, die Neonanzeige für die Sekunden sprang immer wieder vor und zurück.
Sie stieß einen Seufzer aus.
Plötzlich zuckte Abigail zusammen, als sie in den Augenwinkel einen Schatten vorüberhuschen sah. Sie drehte den Kopf, doch der Schatten war so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Abigails Herz begann schneller zu schlagen, sie stand auf und drückte schützend die Babytrage enger an sich. Sie hätte schwören können, dass sich gerade eben jemand hinter dem Betonpfeiler unter der Uhr versteckt hatte. Während sie einen wachsamen Blick auf den Eingang zum Bahnsteig wahrte und ein Stück nach hinten zurückwich, versuchte sie gleichzeitig zu sehen, was sich hinter dem Pfeiler befand.
Da war niemand!
Sie versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Es gab keinen Grund, sich über etwas aufzuregen, das gar nicht da war. Vielleicht war es eine Taube gewesen. Manchmal schafften sie es bis auf den Bahnsteig, um dort zu brüten. Aber sie hatte kein Flügelschlagen gehört. Vielleicht bildete sie sich alles bloß ein.
Vielleicht aber auch nicht.
Abigail stieß keuchend die Luft aus, als sie hinter sich Schritte hörte, die schnell näher kamen. Sie wirbelte herum, aber auch diesmal war niemand da. Ein übelriechender Wind wehte durch die Station und trieb den Abfall vor sich her, der die Gleise bedeckte.
Stille.
Sie hatte genug. Sie nahm ihre Einkaufstaschen und wandte sich um, damit…
Abigail lief mit ihrer Drehung Dingo und Proof geradewegs in die Arme, die auf einmal dicht hinter ihr standen. Sie schnappte erschrocken nach Luft und starrte die zwei an, die nicht so aussahen, als wollten sie ihr helfen, die Einkaufstaschen zu tragen.
„Hey, hübsche Lady.“
„Hallo, scharfe Mama.“
Dingo und Proof grinsten sie breit an. Abigail bemerkte die spitzen Reißzähne der beiden und stieß einen Schrei aus.
Sie wich zurück und wirbelte herum, um in Richtung Ausgang zu rennen, doch Flick und Squid waren längst hinter dem Pfeiler hervorgekommen und versperrten Abigail den Weg.
Die beiden Vampire lachten begeistert, als sie mit ihnen zusammenstieß. Dann folgte eine rasche Bewegung, und im nächsten Moment hatten sie ihr die Babytrage vom Körper gezerrt, dann drängten sie sie rückwärts zu den beiden anderen Mitgliedern der Gang.
Dingo packte Abigail an den Haaren und trat ihr die Beine zur Seite weg, so dass die Frau auf den Bahnsteig stürzte. Er und Proof begannen, ihr die Kleidung vom Leib zu reißen, während sie lauthals grölten. Seit Tagen hatten sie sich nicht mehr so vergnügt, und so schnell sollte dieser Spaß nicht vorüber sein.
Dingo packte Abigails Bluse und zerfetzte sie mit einer flinken Bewegung. „Wenn es wehtut, Chica, dann schrei.“
Flick stand ein paar Schritte entfernt und gab einen hungrigen Laut von sich, während er das Baby aus der Trage hob. Speichel tropfte ihm aus dem Mundwinkel.
Er war so von dem Schauspiel gefesselt, was vor seinen Augen geschah, dass er einen Moment brauchte, um zu erkennen, was nicht stimmte. Das Baby in seinen Armen war viel zu leicht, und es bewegte sich nicht. Flick starrte es an, verstand aber nicht, was genau eigentlich los war.
Augenblick mal! Das war ja gar kein Baby!
Das war eine verdammte Plastikpuppe!
Flick hielt sie ins Licht und sah, dass mit schwarzem Stift FUCK YOU! quer über die Brust der Puppe geschrieben stand.
Was zum Teufel…?
Der Vampir war für ein paar Sekunden verwirrt, bis auf einmal das „Baby“ explodierte und ihn in eine Wolke konzentrierten, Übelkeit erregenden Gases hüllte.
Flick zuckte zurück und würgte. „Aaah! Das ist verdammter Knoblauch!“ Er schleuderte die Puppe zu Boden und begann, sich hastig sein bereits brennendes Gesicht abzuwischen.
Dingo und Proof hielten mitten in ihrem Angriff inne und blickten verwirrt auf.
Unter ihnen hörte Abigail auf, sich zu wehren, stattdessen wand sie sich lautlos und zog ein Knie bis vor die Brust. Ein leises Klicken war zu hören, dann glitt ein silberner Dorn mit Widerhaken aus der Stiefelspitze. Sie sah kurz auf ihre Armbanduhr, presste sich gegen den Boden, so fest es nur ging, und dann holte sie mit aller Kraft aus, um Proof den Dorn von unten ins Kinn zu jagen.
Mit einem entsetzten Kreischen ging der Vampir in Flammen auf, als das Silber durch tausend winzige Kapillargefäße in seinen Blutkreislauf eindrang, sich rasend schnell im ganzen Körper ausbreitete, der gleich darauf von blauen Flammen verzehrt wurde. Proof packte mit seinen brennenden Händen nach Abigails Stiefel und versuchte, den todbringenden Widerhaken aus seinem Kiefer zu ziehen.