„Bist du verrückt?“ gab King zurück. „Wir sind so gut wie durch. Wir können nicht noch nach deinem Scheißbuttermesser suchen!“
Doch Blade war bereits auf dem Weg zurück nach oben, entschlossen, sein Schwert zu finden. „Hey, hey! Komm gefälligst zurück! Das sollte eine Rettungsaktion sein!“
Abigail packte King an der Schulter und zog ihn nach unten. „Vergiss es, King. Lass uns abhauen.“
Eine vielstimmiges Geheul von Polizeisirenen gellte den beiden entgegen, als sie aus dem Haupteingang der Wache stürmten. Die Metalltore rund um die Wache waren bis auf eines alle geschlossen, und ein Streifenwagen nach dem anderen jagte durch die verbliebene Öffnung und hielt geradewegs auf sie zu. Offenbar war Verstärkung eingetroffen.
Abermals saßen sie in der Falle.
Rasch zogen sich die beiden in die trügerische Sicherheit des Gebäudes zurück. Doch ehe sie die Tür erreicht hatten, hörten sie, wie weiter oben eine Scheibe zerbrochen wurde. Ein Fenster im zweiten Stock wurde förmlich aus dem Rahmen gesprengt, und einen Augenblick später landete Blade vor den beiden am Eingang zur Wache. Er war zwei Stockwerke in die Tiefe gesprungen und in einer katzengleichen Haltung gelandet, als sei es eine Selbstverständlichkeit.
King starrte Blade verblüfft an.
Dieser Hurensohn hielt sein Schwert in der Hand.
Blade grinste King breit an, streckte ihm den Mittelfinger entgegen und sagte: „Jetzt können wir gehen.“
„Ist der irre oder was?“ fragte King fassungslos und stieß Abigail leicht an.
Die Polizisten sprangen hastig aus ihren Wagen und liefen mit den Waffen im Anschlag in ihre Richtung. Dieses Mal wirkten Abigail und King deutlich gelassener. Sie blickten erwartungsvoll an den Polizisten vorbei zur Straße. Auch Blade sah nun gebannt auf die Straße.
Auf einmal tauchte ein aufgemotzter Land Cruiser aus den siebziger Jahren auf, dessen grelle Scheinwerfer den Eingang zur Wache beleuchteten. Mit quietschenden Reifen wechselte er von der Fahrbahn auf den Fußweg und zersprengte die Menschenmenge, die sich nahe der Wache eingefunden hatte. Dann raste er geradewegs durch die Mauer mitsamt Zaun, die das Gebäude umgab, wobei die zusätzlich montierten Stoßstangen den größten Teil des Aufpralls schluckten. Sekunden später kam der Wagen mit kreischenden Bremsen zwischen Blade und den Streifenwagen zum Stehen. Ein kompakter, mürrisch aussehender Mann beugte sich aus dem Seitenfenster und winkte Blade zu, während sich die hinteren Türen automatisch öffneten. „Gestatten, mein Name ist Dex. Ich rette heute Abend Ihren Arsch.“
Blade und seine beiden Begleiter sprangen in den Land Cruiser, ohne sich um die nervösen Rufe der Polizisten ringsum zu kümmern. Dex legte den Rückwärtsgang ein und fuhr durch das Loch in der Mauer hinaus, das er eben selbst noch geschaffen hatte. Die Polizisten eröffneten das Feuer, doch die Kugeln prallten wirkungslos von den gepanzerten Seiten des Cruisers ab. Sie rannten zu ihren Fahrzeugen, als der Wagen mit qualmenden Reifen eine halbe Umdrehung beschrieb und dann in Richtung Freiheit davonraste.
Abigail spähte durch das Heckfenster des Cruisers, als sie durch die nächtlichen Straßen der Stadt fuhren. Sie hatten einen Vorsprung von vielleicht zehn Sekunden, was für eine erfolgreiche Flucht genügen sollte. Sie kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit irgendein Anzeichen dafür zu finden, dass sie verfolgt wurden.
Von der Polizei war nichts zu sehen, doch stattdessen sah sie etwas Erschreckendes: Grimwood rannte hinter ihnen her, seine kleinen Glubschaugen auf das Heck des Cruisers fixiert wie ein Pitbull, der einen Postboten im Visier hatte.
Schlimmer aber war, dass der große Blutsauger sie nicht nur verfolgte, sondern sogar aufholte.
Sie griff nach ihrem Bogen und lehnte sich aus dem Seitenfenster, legte einen ihrer UV-Pfeile an und zielte auf Grimwoods Kopf. Während sie sich gegen den Wagen drückte, um Halt zu finden, ließ sie die Sehne los.
Der Pfeil überwand die Distanz innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde und bohrte sich tief in Grimwoods rechtes Auge. Der schrie auf und fiel wie ein Stein zu Boden, überschlug sich mehrere Male und blieb schließlich als Knäuel aus Gliedmaßen liegen. Dex gab Gas. Er wollte Grimwood schnellstmöglich hinter sich lassen, ganz gleich, ob der den Pfeil überleben würde oder nicht.
Schließlich konnten die vier sich entspannen und den Adrenalinschub eines erfolgreich ausgetragenen Kampfs genießen. Der Motor schnurrte zufrieden, als sie sich der Interstate näherten. Das Schweigen im Wagen wurde von Dex’ Mobiltelefon unterbrochen. Er nahm das Gespräch an und lauschte kurz, dann sagte er: „Wir haben ihn. Wir sind bald da.“
Er schaltete das Telefon wieder aus und drehte sich zu Blade herum. „Und was sagst du zu meinem Auftritt vor der Wache? Zu übertrieben? Oder genau richtig?“
Auf dem Rücksitz löste King seinen Harnisch. Darunter kam eine kugelsichere Weste zum Vorschein. Die Vorderseite dieser Weste wies zahllose Beulen auf. King rieb sich die Rippen und seufzte erleichtert, froh darüber, wieder durchatmen zu können. Morgen früh würde er zweifellos einige sehr interessante blaue Flecke vorweisen können.
King sah auf und bemerkte, dass Blade ihn beobachtete. Sofern man in Blades ausdruckslose Miene überhaupt irgend etwas hineininterpretieren konnte, hätte King schwören können, dass der Daywalker zumindest ein wenig beeindruckt dreinblickte. Er nahm Kings ramponierten Harnisch an sich und betrachtete ihn. „Wer seid ihr eigentlich?“
King schluckte vor Stolz. „Ich bin Hannibal King. Ich bin ein Jäger, so wie du.“ Er deutete auf die Frau neben ihm. „Und diese kleine Range ist Abigail.“
Sie sah Blade nur stumm an. So vieles war ihr über den Daywalker schon zu Ohren gekommen, dass sie das Gefühl hatte, ihn in- und auswendig zu kennen. Seit Jahren hatte sie ihn schon treffen wollen, doch ihr Vater hatte es ihr verboten.
Jetzt endlich war es doch noch dazu gekommen, aber sie empfand unerklärliche Angst vor ihm.
Dass sie so fühlte, ärgerte sie, und sie riss sich rasch zusammen und errichtete einen imaginären Schutzwall um ihre Gefühle herum.
Blade erwiderte Abigails Blick und legte den Kopf ein wenig schräg, als versuche er, sie irgendwo einzuordnen. Während er sie weiter ansah, kniff sie ein wenig die Augen zusammen und hob den Kopf an, um ihm zu signalisieren, dass sie zum Kampfbereit war, wenn er es darauf anlegte. Es war nur eine minimale Bewegung, doch in Blades Gehirn weckte sie eine bestimmte Erinnerung. Er hatte diese Geste Tausende von Malen gesehen.
„Du bist Whistlers Tochter, stimmt’s?“, fragte Blade, obwohl es mehr ein spontan ausgesprochener Gedanke war, der ihm ungewollt über die Lippen gekommen war.
King lächelte, als er sah, wie Blades Miene ein wenig starrer wurde, auch wenn das kaum möglich schien. Er begann bereits, den Kerl zu durchschauen. „Stimmt, Blade.“
Er lehnte sich auf dem warmen Ledersitz nach hinten, während der Wagen in Richtung Küste über den Highway rumpelte. „Du musst wissen, Abby, Dex und ich… wir sind alle Teil von Whistlers Notfallplan.“
King griff in seine Tasche und zog ein Päckchen Kaugummi heraus. Er nahm einen Streifen, dann hielt er Blade das Päckchen hin. „Etwas für die Beißerchen?“
Blade starrte ihn nur an, während King den Streifen in den Mund steckte, zu kauen begann und sich dann mit einem Schulterzucken wieder nach hinten lehnte.
Das würde eine lange Fahrt werden.
8
Während die Nacht hereinbrach, fuhren Blade, Abigail, Dex und King mit dem Land Cruiser durch eine verlassene Schiffswerft zu den von Unkraut überwucherten Ruinen eines aufgegebenen Trockendocks. Blade sah nachdenklich aus dem getönten Seitenfenster, als der Cruiser an den skelettartigen Überresten alter Schlepper, schrottreifen Gabelstaplern und verschiedenen anderen verrosteten Überbleibseln einer einst blühenden Werft vorbeifuhr. Es herrschte völliges Chaos, und wenn Blade es nicht besser gewusst hätte, wäre er überzeugt gewesen, sich auf einem echten Schrottplatz zu befinden.