Degenerierte… alle beide.
Sie hatten ihm erklärt, er könne seinen alten Namen nicht benutzen, da der viel zu bekannt sei. Es war ein angenehmes Gefühl gewesen, dass er nicht in Vergessenheit geraten war.
Immerhin war er Draculea – oder „Dracula“, wie diese Primaten im Apartment den Namen immer wieder aussprachen. Er war Prinz und Krieger gewesen, Schlächter und Eroberer, ein Gott inmitten niederer Kreaturen. Warum sollten die Menschen den Namen eines solchen Mannes auch vergessen, ob er drei oder dreißig Jahrhunderte geschlafen hatte?
Doch Danica hatte darauf bestanden, dass er für dieses neue Zeitalter einen neuen Namen annahm, der keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich lenken würde. Für ihn war es völlig unwichtig. Er hatte in seinem langen Leben so viele verschiedene Namen geführt, dass er sich gar nicht an jeden von ihnen erinnern konnte. Doch für sie schien es wichtig zu sein, also ließ er die Frau einen neuen Namen wählen.
Sie hatte Drake vorgeschlagen, eine verkürzte Version seines alten Namens.
Der, der sich Grimwood nannte, hatte verächtlich auf den Vorschlag reagiert, doch genau das hatte den Ausschlag gegeben. Drake hatte seinen neuen Namen angenommen und dann Grimwood nur angesehen, um darauf zu warten, ob der es wagte, noch ein Wort zu sagen. Natürlich war der nur blass geworden und hatte weggesehen.
Drake lächelte. Es gab kein Wesen, das seinem Blick standhalten konnte, wenn er es nicht wollte. Ein Bastard wie Grimwood stellte keine Ausnahme dar.
Er widmete sich wieder dem Anblick der Stadt unter ihm und verdrängte das kindische Gezänk zwischen Danica und den anderen im Raum nebenan. Stattdessen lauschte er auf ein neues Geräusch – den Herzschlag der lebenden, atmenden Stadt.
Es war das Geräusch von elf Millionen Menschen, die in einem riesigen künstlichen Habitat lebten, das sie selbst errichtet hatten und das sie von den wenigen Verbindungen zum Land abschnitt. Aus Drakes Perspektive war es ein Leichtes zu glauben, dass die Stadt ein Paradies aus Licht war, der endgültige Sieg der Zivilisation über die Wildnis.
Doch von Danica wusste er, dass in dieser Stadt das Verbrechen regierte. In den verdreckten Seitenstraßen lauerten Mord, Vergewaltigung und Angst – und das in einem Maß, wie man es in früheren Jahrhunderten nicht gekannt hatte.
Trotz aller scheinbarer Fortschritte war diese Zivilisation genauso brutal wie jede andere in der Geschichte, vielleicht sogar noch brutaler. In früheren Jahrhunderten musste man nur Männer fürchten, die kräftig waren und die mit Fäusten und Schwertern umzugehen verstanden. Doch von Danica wusste er, dass die Technologie einen Punkt erreicht hatte, an dem ein schwächliches altes Weib mit einer Waffe ebenso leicht töten konnte wie ein junger Mann in der Blüte seines Lebens.
Als Folge davon hatte jeder vor jedem Angst.
Natürlich traf das nicht auf Drake zu. Keinem Sterblichen war es möglich, ihn zu töten, ganz gleich, mit welcher gefährlichen Technologie derjenige auch bewaffnet sein mochte.
Drake trat näher ans Fenster und strich mit dem Finger über das Glas, dessen perfekte Glätte ihn faszinierte. Menschen hatten es geschaffen. Sie waren erfindungsreiche Kreaturen, allerdings nur in der Art, wie Ameisen ihre Kolonien bauten. Sie schufen diese Wunder, um zu überleben, da sie um ihre Schwächen wussten. Sie besaßen keine natürlichen Waffen, um sich zu schützen – keine Krallen oder Hörner –, sie waren von geringer Kraft und hatten stumpfe Zähne. Auch wenn ihre Städte spektakulär waren, dienten sie doch nur dem Zweck, die Menschen vor der Natur in all ihren Formen zu beschützen. Das konnte selbst er erkennen.
Drake ließ seinen spöttischen Blick durch den dunklen Korridor mit seinem weichen, durchgehenden Teppichboden, mit der summenden Klimaanlage und mit der Wasserquelle wandern, die in die Wand eingebaut war. Es ging nicht nur um das Überleben. Für die Menschen stellte die Natur das Ungewisse, Unkontrollierbare und Wilde da.
Das war es, was den Menschen die größte Angst einjagte.
Und darum hatten sie ihre Jäger auf ihn angesetzt. Drake verkörperte all die Dinge, die Menschen Entsetzen bereitete. Aus diesem Grund hatten die Menschen öfter versucht, ihn zu vernichten, als er hätte mitzählen können.
Und jedes Mal waren sie gescheitert.
Drake betrachtete wieder die riesenhafte Stadt und gestattete sich, seine Gedanken durch die Jahrtausende zurückwandern zu lassen, Gedanken, die sich wie Spinnennetze durch seine Synapsen zogen. Er reiste im Geist durch die siebentausend Jahre seiner Existenz zurück und erinnerte sich daran, wie die Dinge einst waren…
Er erinnerte sich an die fruchtbaren Ufer des Euphrat und an das Volk, das sich dort als Erstes niedergelassen hatte. Sein Volk, das von der Geschichte den Namen Ubaidi erhalten hatte. Männer und Frauen, die lernten, das Feld zu bestellen und Vieh zu hüten, während der größte Teil der Weltbevölkerung noch immer das Leben von Jägern und Sammlern führten. Er erinnerte sich an den Beginn der Zivilisation, denn er war dabei gewesen. Er war einer ihrer Begründer.
Er wusste noch, wie er vor allen anderen Männern und Frauen für etwas Großes auserwählt worden war – für die Unsterblichkeit.
Drake hatte keine Ahnung, was sich zugetragen hatte, er wusste nur von diesem Tag an, dass er anders war.
Auf eine schreckliche und tragische Weise anders.
Nachdem er seine Mutter, seinen Vater und jedes andere Familienmitglied getötet hatte, das vergebens schreiend in die Wildnis geflohen war, um ihm zu entkommen, war er mit der Aussicht konfrontiert worden, in einer Welt aufzuwachsen, in der er einzigartig war.
In jenen frühen Tagen war der Durst in ihm stark gewesen, zu stark, um ihn zu beherrschen. Er hatte über Jahre und Jahrzehnte hinweg Tag und Nacht seinesgleichen gejagt, bis sie in alle Winde verstreut und vergessen waren.
Die Jahrhunderte verstrichen, neue Völker kamen und gingen. Drake hatte sich bei ihnen allen seine Beute gesucht, ganz gleich, welcher Rasse sie angehörte, welchen Dienstgrad jemand hatte oder aus welcher Schicht er entstammte. Im Lauf der Jahre gelang es ihm aber, diesen Hunger immer besser zu kontrollieren, bis sich ein neues Volk am Euphrat niederließ, ein Volk, das an dessen Ufer die erste große Nation errichtete. Diese Menschen kultivierten das Land und beanspruchten es für sich. Sie gaben ihm einen Namen – Sumer –, und auf dem fruchtbaren Boden errichteten sie Städte und erließen Gesetze.
Da wurde Drake klar, welches seine Rolle war. Er sollte nicht bloß die Menschheit jagen, die er hinter sich gelassen hatte.
Seine Rolle war es, über sie zu herrschen.
War er nicht schließlich stärker und weiser als sie alle? Hatte er nicht länger gelebt als jedes andere Wesen? Hatte er nicht mehr gesehen als jeder andere? Er kam zu dem Schluss, dass diese Sumerer gleichzeitig seine Untergebenen und seine Herde sein sollten.
Also unterwarf er das Volk von Sumer und ließ eine Stadt errichten, in der er als ihr König herrschen konnte. Sein Volk gab ihm einen neuen Namen, um den zu ersetzen, den er vor so langer Zeit vergessen hatte.
Gilgamesch.
Sein Name und seine Errungenschaften dieser Zeit waren auch noch Jahrtausende später bekannt. Sie stellten die Grundlagen für die erste aufgezeichnete Legende dar.
Doch nichts währt ewig, und er stellte keine Ausnahme dar.
Die Herrscher anderer Städte wurden eifersüchtig auf den offenbar unsterblichen König, und sie begannen, seine Stadt und ihren Wohlstand zu begehren. Drake erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als eine Armee aufgestellt wurde, um gegen ihn zu marschieren. Mit seinem Volk im Rücken konnte er seine Feinde in alle Himmelsrichtungen zerschlagen. Doch es kamen mehr und immer mehr, und auch wenn Drake schließlich lernte, wie er seine Unsterblichkeit und einen Bruchteil seiner Kraft weitergeben konnte, genügte es nicht, um seine Stadt vor der Zerstörung zu bewahren und die Krone auf dem Kopf zu behalten.