Nach den spärlichen Informationen, die Danica ihm gegeben hatte, stellten die Vampire nur einen winzigen Anteil an der gesamten Bevölkerung. Und offenbar glaubten die meisten Menschen gar nicht an die Existenz von Vampiren. „Moderne“ Vampire – soweit Drake das richtig verstanden hatte – bevorzugten ein Leben im Untergrund und waren in exklusiven Kreisen und Gesellschaften organisiert. Ihre Treffpunkte und ihre Verbündeten erkannte man nur, wenn man die weitverbreiteten Vampirschriftzeichen erkannte, eine hässliche Kurzschrift, die aus den wenigen erhalten gebliebenen Texten der Sumerer abgeleitet war.
Ein Stirnrunzeln prägte einen Moment lang Drakes ausgesprochen schönes Gesicht. Es war ein Trend, der vor vielen Jahrhunderten eingesetzt hatte, aber er mochte ihn heute so wenig wie damals. Die Vampire versteckten sich vor den Menschen seit der Zeit, da die Degeneration ihrer Linie eingesetzt hatte. Doch sie versteckten sich nicht in der Form, die Drake betrieben hatte. Er war von Nation zu Nation gereist. Dabei hatte er immer neue Namen und Identitäten angenommen, um bei allen Völkern Angst und Entsetzen auszulösen, damit die unbedeutenden Menschen erkannte, dass es nach wie vor Dinge gab, die größer waren als sie. Dinge, denen sie unterlegen sein würden, ganz gleich, welchen Reichtum, welche Macht oder welchen Status sie hatten.
Nein, die Vampire der Gegenwart schienen sich zu verstecken, da sie fürchteten, von den Menschen entdeckt und verfolgt zu werden. Doch wenigstens verhielten sie sich Drake gegenüber so respektvoll, wie es auch angemessen war. Und sie schienen die Grundlagen für eine Technik gefunden zu haben, die sie von ihrer geerbten Schwäche befreien und wieder zu den lebenden Göttern werden ließen, die sie seinem Willen nach hatten sein sollen.
Vielleicht gab es ja noch Hoffnung für sie. Denn auch wenn die Menschheit mehrheitlich nicht an Vampire glaubte, erinnerte man sich doch auch an ihn – wenn auch aus einer Zeit, als er einen anderen Namen trug. Wenn das stimmte, war es ein gutes Zeichen.
Doch er konnte sich nicht auf die Speichelleckerei von Danica und den anderen verlassen.
Er wandte sich vom Fenster ab und ging durch den Korridor, bis er die nach unten führende Treppe erreicht hatte.
Er würde selbst nach den Hinweisen auf sein großes Vermächtnis suchen.
10
Eine finstere Gestalt bewegte sich durch die rußgeschwärzten Straßen im Geschäftsviertel von Downtown. Autohupen ertönten, Hot-Dog-Verkäufer schrieen ihre Preise in die Menge, während Drake auf dem Boulevard entlangging. In seiner lässigen Kleidung fiel Drake inmitten der Menschen nicht auf, die sich an diesem warmen Abend auf den Bürgersteigen drängten.
Drake blickte um sich und staunte über das Tempo und die Intensität des modernen Lebens. So viel Bewegung! Dieser Lärm! Das grelle Neonlicht tauchte ihn in ein Meer aus aufblitzenden elektrischen Farben, kalte Blautöne und warmes Rot malten Feuer und Schatten auf sein Gesicht. Fußgänger streiften ihn, ohne auch nur eine Spur von Angst vor ihm zu verspüren, während Drake den Duft von frischem Blut inhalierte, das dicht unter ihrer Haut strömte. Der Geruch war trotz des üblen Gestanks der Abgase wahrnehmbar, die wie der Rauch eines Fegefeuers in der Luft hingen.
Das gleichmäßige Dröhnen des innerstädtischen Verkehrs trat in den Hintergrund, als sich Drake völlig auf die Geräusche konzentrierte, die wirklich zählten – das Schlagen von Tausenden von Herzen jener Menschen, von denen er umgeben war. Hier floss der wahre Lebenssaft der Stadt, hier wo die lebhaften Blutkörperchen Dollar für Dollar den unsterblichen Leib der Zivilisation baute und neu erbaute.
Da war das kleine Mädchen, das auf den Schultern des Vaters saß und ausgelassen über die Lichter und den Lärm lachte und sich darüber freute, lange über die Schlafenszeit hinaus noch aufbleiben zu dürfen. Drake lauschte aufmerksam, als er die beiden passierte. Das Herz des Kindes schlug kraftvoll, unberührt von den Verwüstungen der Zeit. Es hatte noch ein ganzes Leben vor sich, ganz im Gegensatz zu seinem Vater, dessen von Cholesterin fast erstickendes Herz so mühsam arbeitete, dass er froh sein konnte, wenn er den fünfzehnten Geburtstag seiner Tochter noch miterleben durfte.
Dort war ein Junkie, der in einem Hauseingang lag, ein kränklicher junger Mann Mitte zwanzig. Seine Haut war fahl und klamm, sein Puls raste wie bei einem Rennpferd, das alles gegeben hatte. Während Drake ihn betrachtete, suchte der Mann etwas in einer Tasche, dann blieb seine Hand in der Kleidung stecken, er warf den Kopf nach hinten und lachte hysterisch – und übergab sich lautstark in eine Ecke. Er würde tot sein, noch bevor das Jahr um war, aber nicht wegen der Drogen, sondern wegen einer winzigen Unregelmäßigkeit in der linken Herzklappe, an der jedes Blutgerinnsel hängen bleiben würde, der größer war als ein Sandkorn, um dann sein Herz damit regelrecht zu strangulieren.
Drake sah ihn einen Moment lang an, ohne dass sich in seinen schwarzen Augen Mitleid abzeichnete. Wenn es stimmte, was über die moderne Medizin gesagt wurde, dann konnte man den jungen Mann retten. Doch wer nahm schon Notiz von einem Drogenabhängigen unter vielen, der zitternd in einem Eingang saß.
Drake ging weiter.
Ah, hier! Danach hatte er gesucht: Kultur.
Die Wohnhäuser wichen Einzelhandelsgeschäften, Drake ging hin, um zu sehen, was sie anboten. Ein großes, farbenprächtiges Schaufenster weckte sein Interesse, und er blieb stehen, um sich die Auslage anzusehen. Es handelte sich offenbar um ein Geschäft, das Ausstattungen für Maskenbälle oder einen Karneval anbot, auch wenn die grobschlächtigen Masken eher für eine mindere Qualität sprachen. Grässlich bemalte Plastikmasken starrten ihn an, die blutunterlaufene Augen und gefletschte Zähne aufwiesen. Alle möglichen Bestien waren vertreten, von Zombies über Werwölfe bis hin…
Drake blieb stehen und betrachtete eine Maske ganz besonders, eine Karikatur eines blassen Mannes mit schwarzem, glatt zurückgekämmtem Haar und langen Eckzähnen. Der Mann lachte wild, aus dem Mundwinkel lief ein blutiges Rinnsal.
Er zog überrascht eine Augenbraue hoch.
Also wussten die Menschen von der Existenz der Vampire. Und angesichts des Namens auf einem Schild unter der Maske, erinnerten sie sich auch noch an ihn.
Dracula.
Drake nahm zornig zur Kenntnis, dass sein alter Name wieder einmal falsch buchstabiert worden war, dann aber befasste er sich wieder näher mit der Maske. Sie war eine Karikatur, sie wirkte eher komisch als unheimlich, und sie wurde ganz sicher nicht dem Wesen gerecht, die es parodieren wollte. Drake verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen.
Er bewegte sich weiter am Schaufenster entlang und entdeckte ein Vampirgebiss aus Kunststoff sowie einen maßlos närrischen schwarzen Umhang, der mit falschem rotem Samt gefüttert war. Es gab noch weitere Reihen mit Vampirmasken, die wohl alle ihn darstellen sollten. Jedes Teil war nichts weiter als eine Travestienummer. Sein Name und ein grotesk karikiertes Gesicht zierten Schlüsselanhänger, Frühstücksdosen, T-Shirts und Schreibmäppchen. Es gab sogar eine Puppe nach seinem Ebenbild, ein abscheuliches Ding, das mit silbernen Knöpfen verziert war und lächerliche goldene Kleidung trug. Ein Knopf an der Puppe war mit einem Schild versehen, auf dem geschrieben stand: „Drück mich und ich schreie.“
Drake drückte das Kreuz durch, wodurch der Kontrast zwischen seiner eleganten, gutangezogenen Silhouette und diesem Müll dort noch deutlicher wurde.
Was hatten sie aus seinem stolzen Namen gemacht? Wie tief war er in den Augen der Menschheit gesunken? Zum ersten Mal in seiner Jahrtausende alten Existenz regte sich in ihm ein unheimliches Gefühclass="underline" Zweifel.
Eine Türglocke klingelte fröhlich, als Drake das Geschäft betrat. Es war ein krasser Gegensatz zu den hektischen Gongschlägen und Kriegshörnern, die früher ertönten, um vor seiner Ankunft zu warnen. Ein wenig irritiert blieb er in der Tür stehen.
Sein Blick wanderte durch das Geschäft, während sich seine Augen rasch an die Lichtverhältnisse gewöhnten. Obwohl mehr als ein Dutzend Lampen brannte, machte das Geschäft den Eindruck, dass es hier dunkler war als draußen in der Nacht. Es war feucht und unsauber, alles war bis zum Bersten vollgestellt, überall stapelten sich Ramsch und Plastikneuheiten, dazu bedruckte T-Shirts. Bücherregale aus Pressspan säumten die hintere Wand und präsentierten eine Auswahl an Comics, Gesellschaftsspielen und Horrorfilmen. Entlang des Regals waren da und dort unechte heruntergebrannte Kerzen und bemalte Gipstotenköpfe platziert worden. In einer Ecke fand sich ein Metallständer, der eine Auswahl an Unterwäsche aus Spitze oder Lack feilbot.