Drake trat ein paar Schritte nach vorn und sah sich mit zusammengekniffenen Augen im Geschäft um, da er kaum glauben konnte, was er zu sehen bekam.
Hinter der Theke saß ein blasser junger Mann, den mehrere Piercings schmückten und der zerrissene schwarze Kleidung trug, die mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurde. Drake bemerkte, dass der junge Mann, der dünn wie ein Strich war, das Wort „Goth“ auf die Knöchel der linken Hand hatte tätowieren lassen. Aus einer Plastikschachtel, in die ein großes „M“ eingeprägt war, nahm er etwas zu essen und stopfte es sich in den Mund. Ein Stück neben ihm stand ein ramponierter alter Fernseher, in dem ein Zeichentrickfilm zu sehen war. Das Gerät war mit künstlichen Spinnennetzen verziert, und um die Antenne war etwas gewickelt, das wie ein abgetrennter blutiger Arm aussah.
Hinter dem Mann stand eine attraktive Frau, die ähnlich gekleidet war, die Arme verschränkt hatte und die recht gelangweilt wirkte.
Drake ging zur Theke, aber der Junge sah gar nicht erst zu ihm auf, sondern hatte den Blick auf den Fernseher geheftet. Ein Zeichentrickvampir war dort zu sehen, darunter der Schriftzug „Little Bit“. Er bändigte seinen wachsenden Ärger und räusperte sich. „Im Schaufenster… Sie verkaufen doch Vampirzubehör, nicht wahr?“
Der Junge sah ein wenig gereizt auf und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. Offenbar hatte Drake ihn in seiner Pause gestört. „Ahm, ja… ich glaube, wir haben ein paar Sachen. Sehen Sie sich ruhig um.“
Er und die junge Frau kicherten, offenbar ein Scherz auf Drakes Kosten, dann widmeten sie sich ihm nicht weiter. Wenn dieser Freak nicht sehen konnte, dass sich fast alles in diesem Laden um Vampire drehte, dann war ihm auch nicht zu helfen.
In dem Moment fiel der Frau die Überwachungskammer ein. Sie zog eine finstere Miene. An manchen Tagen schaltete der Fettsack, dem der Laden gehörte, die Kamera ein und nahm alles auf, was im Laden geschah, dann wieder dachte er nicht daran. Ausgerechnet heute hatte er es nicht vergessen. Sie deutete mit einer Handbewegung auf ein Display gleich neben Drake, um den Eindruck von Hilfsbereitschaft zu erwecken. „Wir haben Dracula-Frühstücksboxen“, sagte sie. „Haben Sie die gesehen?“
Drake presste die Lippen aufeinander, als sie seinen Namen falsch aussprach, dann sah er, was vor ihm im Regal einsortiert worden war. Angewidert verzog er den Mund.
Dann wanderte sein Blick zu der Frau, die wesentlich angenehmer anzusehen war als alles, was im Geschäft zum Verkauf angeboten wurde. Ihre Haut war so weiß wie Elfenbein und wirkte noch blasser, da ihre extrem eng anliegende Kleidung pechschwarz war. Um den Hals trug sie ein silberfarbenes Hundehalsband, ihre Augen wurden durch breiten schwarzen Eyeliner betont, der wegen der feuchten Hitze im Laden ein wenig verlaufen war.
Drake ließ seinen Blick über ihren Körper wandern, als bewege sich eine Hand über sanften Samt. Auch wenn sie wohl fünf Kilo Übergewicht hatte, stand es der jungen Frau gut, vor allem mit Blick auf ihre Oberweite. Der Schwung ihrer Hüfte musste das Blut eines jeden Mannes in Wallung bringen. Ihre vollen Brüste pressten sich verführerisch gegen den Stoff ihres spitzenbesetzten Tops. Drake spürte, wie sich der Hunger in ihm regte und durch den Gedanken an seine jahrhundertelange Fastenzeit noch verstärkt wurde. Das Blut der Vampire, das er zuvor getrunken hatte, machte zwar satt, befriedigte ihn aber nicht. Dem Vampirblut fehlte das gewisse Etwas: das Leben. Auf der Zunge brannte es wie ein scharfes Gewürz, doch davon abgesehen war es dünnflüssig und fad. Wenn ein Vampir nicht erst vor kurzem getrunken hatte, war sein Blut die Mühe nicht wert.
Anders das Blut der Menschen.
Vor allem das von jungen weiblichen Menschen.
Die junge Frau redete derweil nichtsahnend in einem monotonen Tonfall weiter, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass ihr Leben in diesem Augenblick so sehr in Gefahr war wie noch nie zuvor. „Wir haben auch Wackelköpfe, PEZ-Spender, na ja, eigentlich so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann.“
Etwas im Hinterkopf der Frau regte sich und weckte einen verschütteten Überlebensinstinkt. Ohne den Grund so recht zu wissen, sah sie zu Drake auf und nahm ihn zum ersten Mal als Person wahr. Kunden jeden Schlags kamen ins Geschäft, das stimmte wohl, doch etwas sagte ihr, dass dieser Kunde nicht an Sammelkarten interessiert war. Er war gut angezogen. Seine Kleidung ließ erahnen, was für ein Mann dahinter steckte, der eher drohend vor ihr aufzuragen schien, als dass er vor ihr stand.
Offenbar hatte der Typ Geld. Vielleicht auch Macht, sofern es zwischen den beiden Dingen heutzutage überhaupt noch einen Unterschied gab.
Er sah gar nicht mal so schlecht aus, wenn auch auf eine leicht unheimliche Art.
Die Frau lächelte in keck an, dann griff sie hinter sich und zeigte sich mit einem Mal von einer eher ausgelassenen Seite. „Wir haben auch Vampir-Vibratoren.“
Drake sah sie sekundenlang an und versuchte, den Sinn ihrer Worte zu begreifen, gab es dann aber schnaubend auf. Hier gab es nichts für ihn. Dieses komplette Geschäft war nur eine Farce, die Ware taugte für einen Scheiterhaufen, für sonst aber nichts.
Er warf dem jungen Mann einen eisigen Blick zu, der immer noch mit seinem Essen beschäftigt war. Drake schnupperte, dann stieß er den Atem angewidert durch die Nase aus, um sie von dem Übelkeit erregenden Gestank zu befreien, der von dem fetttriefenden, gebratenen Fleisch ausging. Niemand hier verspürte Angst. Der Junge interessierte sich überhaupt nicht für ihn, was in Drake Wut aufsteigen ließ, die den bohrenden Hunger auf ein dumpfes Pochen reduzierte.
Drakes funkelnde Augen schossen zurück zu der Frau, die mit einem Mal nicht mehr ganz so attraktiv wirkte. Zu seinem Ärger sah sie ihn noch immer an wie ein verliebtes Ferkel, und sie versuchte nach wie vor, ihm irgendein Fruchtbarkeitsobjekt zu verkaufen, das die Form eines seiner eigenen Körperteile aufwies!
Wenn diese Kinder nichts von dem Respekt und der Angst zeigten, die ihm angemessen war, wer dann?
Er blickte sich um. Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte, während er die Lippen aufeinander presste. Alles, was ihm vor die Augen kam, machte ihn nur noch wütender. Es gab sogar Weihnachtsanhänger, die man mit Vampiren versehen hatte! Wussten sie nicht, was es mit diesem Ereignis auf sich hatte? Und was sollten diese gedruckten Fotos dort oben? Nosferatu, Lugosi, Der kleine Vampir und Liebe auf den ersten Biss. Gab es etwa schon Vampir-Schauspiele?
Nein, das waren alles Abscheulichkeiten. Sie benutzten sein Abbild, um Erfindungen zu verkaufen und falsche Geschichten zu erzählen. Keiner der Vampire, die hier zu sehen waren, entsprach ihm.
Drake wich vor den Postern an der Wand zurück und schloss die Augen. Die Welt hatte die Wahrheit vergessen. Sie hatte alles vergessen: seine Taten und seine Bedeutung.
Die Welt hatte ihn wirklich vollkommen vergessen.
„Hier, wie wär’s denn damit?“ Die Frau lächelte Drake an und versuchte, sich freundlich zu geben, damit der unheimliche, reiche Typ etwas kaufte – oder noch besser: damit er sie fragte, ob sie mit ihm ausgehen würde. Sie griff unter die Theke und holte eine Dose eines Erfrischungsgetränks hervor. Auf der Dose stand DRA-COLA und zeigte einen stilisierten Vampir, der in das Firmenlogo biss.
Die Frau schüttelte die Dose. „Da würden Sie wohl am liebsten losheulen, wie?“
Drake starrte nur die Dose an, während sich sein Geist durch die Jahrhunderte zurückzog, da es einfach zu schrecklich war. Siebentausend Jahre Blutvergießen und Größe, Gott inmitten so vieler Insekten, und das war alles, was von seiner Herrschaft geblieben war? Er konnte es nicht fassen, dass sich die Welt in nur drei Jahrhunderten so weit entwickeln würde. Die Vampire und die Menschen hatten ihn weit hinter sich zurückgelassen.