Blade ignorierte Kings begierige Blicke, als er überlegte. Ein Virus, das die Vampire auslöschen konnte – nicht nur hier in der Stadt, sondern auf der ganzen Welt.
Das war eine gewaltige Sache, eine wirklich gewaltige Sache.
Es würde bedeuten, dass sein lebenslanger Kampf gegen die Blutsauger ein Ende hätte, ein Sieg, von dem letztlich die ganze Menschheit profitieren würde. Hunderttausende von Menschenleben konnten so gerettet werden, eine ganze Generation, die nicht mehr den Schmerz erleben musste, wie ein Mitglied der Familie unter mysteriösen Umständen ums Leben kam oder verschwand.
Und was noch wichtiger war: Es würde ihm Erlösung bringen, ein Ende der täglichen Gewalt und des Tötens – Dinge, die ihn langsam von innen heraus aufzehrten und seinen letzten Rest von geistiger Gesundheit angriffen, die seine Seele mit getrocknetem Blut befleckten, während die Zahl der Tötungen von Tag zu Tag anstieg.
King stieß Blade gutgelaunt an. „Also? Wirst du Mitglied in unserem Club? Du bekommst dann auch einen streng geheimen Nightstalker-Decodierring.“
11
Drake saß in seinem abgedunkelten Vorzimmer in den Phoenix Towers. Bei Sonnenaufgang war er zurückgekehrt und hatte sich seitdem hier aufgehalten. Bislang hatte aus Furcht vor seinem Zorn niemand gewagt, nach ihm zu sehen. Immerhin hatte er bereits zwei Vampirwachen schwer verletzt, nur weil sie es gewagt hatten, ihm vorzuschlagen, er solle statt der Treppe doch den Aufzug nehmen. Wie es schien, war Drake mit der modernen Welt gar nicht zufrieden.
Der König der Vampire saß schweigend da, die Gedanken in den trüben Regionen der Vergangenheit. Schatten lagen wie finstere Seile über seinem Körper und fesselten ihn an die Gegenwart. Die einzige Lichtquelle im Raum bildete eine Reihe von kleinen Oberlichtern in der Decke, durch die blendend weißes Licht fiel, das sich wie ein Messer durch die Finsternis schnitt.
Drake schien am Ende seiner Überlegungen angekommen zu sein und stieß einen Seufzer aus, der aus den tiefsten Tiefen seines Wesens kam. Dann sah er hinauf zum taghellen Himmel und ließ es zu, dass die Lichtstrahlen aufsein Gesicht fielen, als könnten sie ihn so von seinen Sorgen befreien. Mit geschlossenen Augen nahm er Sonnenschein in sich auf und ließ sich von dem goldenen Schein das kalte Fleisch erwärmen.
Leise, zaghafte Schritte waren in der Dunkelheit zu hören. Sie näherten sich der Tür und stoppten, einen Augenblick später waren sie wieder zu hören, doch nun entfernten sie sich rasch.
Nach einigen Schritten wurde es wieder ruhig, und dann kamen sie abermals näher, diesmal entschlossener als zuvor.
Drake öffnete die Augen und sah Danica vorsichtig eintreten. Sie blieb in der Dunkelheit stehen und hielt Distanz zu dem Lichtschein, der auf ihn schien. Danica wirkte wie ein kleiner Hund, der auf den Hausschuhen seines Herrchens herumgekaut hatte, als niemand zu Hause war, und der nun auf seine Bestrafung oder den Erlass seiner Sünden wartete. Ihr Blick wanderte über Drakes Gesicht und suchte nach irgend etwas, das ihr einen Hinweis auf ihr Schicksal geben konnte.
Er rieb sich müde mit einer Hand über die Augen und bedeutete Danica näher zu kommen. Es war sinnlos, zu verheimlichen, wie er über diese Welt dachte. Er hatte gehofft, eine blühende Gemeinde von Vampiren reinen Blutes vorzufinden. Aber an ihrer Stelle gab es nur kränkliche, lichtscheue Mischlinge, die wie Ratten auf der Straße lebten.
Sollte es auf der ganzen Welt so aussehen? Er würde das herausfinden müssen.
Er wandte sich von Danica ab und sagte ohne aufzusehen: „Diese Welt macht mich krank. Die Menschen haben sie verschmutzt.“
Danica hielt sich weiter im Schatten auf. „Wir können ihre Städte dem Erdboden gleichmachen. Wir können die alte Welt auferstehen lassen.“ Ihre Stimme hatte etwas Beharrliches, Flehendes.
Und sie klang nach jemandem, der um jeden Preis gefallen wollte.
Drake drehte abrupt den Kopf herum und blickte Danica mit zusammengekniffenen Augen durchdringend an. Er mochte die Art nicht, wie sie mit ihm sprach. Respekt nahm er hin, er erwartete ihn auch. Aber Danicas maßlose Unterwürfigkeit ging ihm allmählich auf die Nerven.
Doch in ihrer Einstellung entdeckte Drake noch etwas anderes, etwas, das ihm gefiel.
Danica hatte Angst vor ihm.
Oder besser gesagt: Sie hatte Angst vor dem, was er verkörperte.
Drake erinnerte sich an die Art, wie die Mischlinge ihn angesehen hatten, ehe diese so genannte Vampirnation im sechzehnten Jahrhundert in mörderische Kämpfe in den eigenen Reihen untergegangen war. Zu der Zeit war jeder in seinem Rat von reinem Blut gewesen, allesamt ferne Nachfahren seiner Kinder und Enkelkinder. Lediglich eine Handvoll der leichter ersetzbaren Mischlinge hatte er als Wachen in seinem Dienst gehabt, um die Ratsmitglieder vor Angriffen von außen und manchmal auch aus den eigenen Reihen zu beschützen.
Trotz der Tatsache, dass diese Wachen zwanzigmal stärker waren als der stärkste Mensch und ein Gewicht heben konnten, das dem eines Pferdes entsprach, ohne dabei in Schweiß auszubrechen, waren sie nichts im Vergleich zu denen, die von reinem Blut waren. Und das wussten sie ganz genau.
Drake sah es ihren Augen an, wann immer er sie anblickte.
Über die Jahrhunderte hinweg hatte sich die Eifersucht der Mischlinge in Angst verwandelt, was schon bald zu Kämpfen und Blutvergießen geführt hatte. Auch wenn Drake wusste, dass er jeden Einzelnen von ihnen hätte zerquetschen können, war er der ständigen Reibereien bald überdrüssig.
Konsequent hatte er sich von allen seinen Kindern abgewandt, ob sie nun reinen Blutes waren oder nicht.
Kurz bevor er sich in den Untergrund zurückgezogen hatte, kamen auf jeden Vampir reinen Blutes hundert Mischlinge – diejenigen, die von Menschen in Vampire ,verwandelt’ worden waren, nicht aber als solche geboren wurden. Drake hatte sie wegen ihrer unverschämten Art verabscheut, doch es war auch dazu gekommen, dass er die Reinblütigen ablehnte, da sie offenbar unfähig waren, die Subjekte unter Kontrolle zu halten.
Und so wandte sich Drake von ihnen allen ab, kehrte heimlich in das Land zurück, in dem er vor so vielen Jahrtausenden zur Welt gekommen war, und hoffte, wenn er sich zur Wiederkehr entschloss, würde die Vampirnation entweder wieder zu Herz und Rückgrat zurückgekehrt sein, oder aber sie würde sich selbst komplett ausgelöscht haben.
Nun sah es danach aus, als würde Letzteres eintreten.
Drake sah wieder zum Himmel, dann wanderte sein Blick zu der jungen Vampirin, die im Schatten verharrte. „Komm näher.“
Danica deutete hilflos auf den Sonnenschein. „Ich kann nicht.“
Er ließ sich in seinem Sessel nieder und zog eine finstere Miene. „Und weißt du auch warum?“
Schweigen. Danicas Wangen wurden in der Dunkelheit schlagartig rot, und ohne zu wissen, warum es so war, schämte sie sich auf einmal.
Drake seufzte auf und lehnte sich in seinem Sessel nach hinten, der dabei leise knarrte. Er legte die Fingerspitzen aneinander und legte sein Kinn darauf. „Einst konnte sich meine Art ins Tageslicht wagen. Wir waren Jäger, die Welt gehörte uns.“ Er warf Danica einen kurzen Seitenblick zu. „Aber irgendwo auf dem Weg wurde die Reinheit unserer Blutlinie verdünnt. Verschmutzt vom Blut der Menschen.“
Danica schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Aber das ist unmöglich.“
„Tatsächlich?“ Drake erhob sich, und im nächsten Moment stand er bereits neben ihr – Danica hatte nicht die leiseste Bewegung erkennen können. Ihr Blick wanderte zur Tür, doch sie blieb stehen.
Drake betrachtete sie einige Sekunden lang nachdenklich und nahm ihre Angst in sich auf, dann streckte er eine Klauenhand aus und packte Danicas Handgelenk. „Ihr seid alle Mischlingskinder. Ihr seid längst nicht mehr so rein, wie ihr von euch so gern behauptet.“
Mit diesen Worten zog er Danica zu sich und damit auf den Lichtkegel zu.
Danica zuckte nicht einmal zusammen, sondern sah Drake flehend an, damit er aufhörte. Er war ihr Erlöser. Dies hier sollte hoffentlich nur eine weitere Prüfung sein.