Als Folge davon hatte Blade immer gewartet, bis Whistler ins Bett gegangen war, ehe er sich Neuerscheinungen ansah. Und selbst dann war von oben die unglaublich durchdringende Stimme des Mannes ertönt: „Spinnen schießen ihr Netz aus dem Arsch, nicht aus den Armen. Idiotische Drehbuchautoren…“
King bemerkte den wehmütigen Ausdruck auf Blades Gesicht und hielt es für eine zweifelnde Miene. „Er könnte sich nicht in eine Fledermaus oder einen Wolf verändern, aber zum Beispiel in einen anderen Menschen, der in etwa die gleiche Masse besitzt. Mit genug Übung sollte das funktionieren.“
Blade dachte darüber nach, dann stellte er die Eine-Million-Dollar-Frage: „Und wie?“
Hedges klappte den UV-Bogen zusammen und schaltete sich in ihre Unterhaltung ein. „Er dürfte keine herkömmliche Skelettstruktur besitzen. Mehr so wie eine Schlange, also mit Tausenden von kleinen Knochen.“ Er sah ein wenig verlegen zu Blade, fuhr dann aber weiter fort. „Das würde natürlich auch bedeuten, dass er das elektrische Potenzial seines ganzen Gewebes unglaublich gut kontrollieren kann, was zur Folge hätte, dass er nach Belieben die Form verändern könnte und…“
King hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen, während Blade sich in die Zeit von Whistlers ausschweifenden Erklärungsversuchen zurückversetzt sah. „Eine Frage, Hedges: Hattest du schon mal Sex?“
Eine Stunde später waren Blade, King und Abigail für ihre Mission einsatzbereit. Sie trugen Schutzwesten aus Kevlar, Ellbogen- und Knieschützer, Stiefel mit Stahlkappen, eben alles, was dazugehörte. Niemand konnte sagen, wem oder was sie in dieser Nacht begegnen würden.
Blade zog seinen langen Ledermantel an und legte einen Gurt mit Klettverschluss um seine Brust, damit er eine Auswahl an Waffen an seinem Körper festmachen konnte.
Dann ging er hinüber zu King und Abigail, die neben einem neuen Land Cruiser standen. Der glänzte im gedämpften Sonnenschein, der durch die Oberlichter fiel. Dex kam zu ihnen und winkte stolz in Richtung des Wagens. „Ich habe euch einen neuen fahrbaren Untersatz besorgt.“
Blade griff einen Sekundenbruchteil schneller nach dem Griff der Fahrertür als King. Einen Moment lang sahen sie sich an, dann grinste Blade, woraufhin King ihm den Vortritt ließ und um den Wagen ging, um sich ein wenig mürrisch auf den Beifahrersitz zu setzen.
Penetranter Hurensohn.
Blade griff an sich vorbei und schob seine auf den Rücken geschnallte Waffen ein Stück weit nach oben, damit er seinen Sicherheitsgurt anlegen konnte. „Zeit, ein wenig Druck auszuüben“, sagte er und drehte den Rückspiegel so, dass er Abigail sehen konnte. „Das schwächste Glied in der Befehlskette der Vampire waren schon immer die Vertrauten. Am Tag können sich die Vampire nicht auf die Straße wagen, also lassen sie sie ihre Drecksarbeit erledigen. Bluttransporte, Überwachung von Verstecken und so weiter.“ Er schlug die Wagentür zu. „Wir lassen die Möchtegern-Vampire ein wenig bluten, dann führen sie uns schon zu ihren Herren und Meistern.“
Er startete den Motor und sah über die Schulter zu Abigail, die auf der Rückbank Platz genommen hatte. Sie hatte schon länger nichts mehr gesagt. Blade sah, dass sie einen Laptop auf den Knien platziert hatte, den sie eindringlich betrachtete. Was hatte es damit auf sich? Vielleicht eine Art taktische Berechnung?
Blade hob die Augenbrauen. Auch wenn er es niemals laut ausgesprochen hätte, musste er doch eingestehen, dass diese Nightstalker eine aufgeweckte Truppe waren. Nicht ganz so aufgeweckt wie er und Whistler, aber jeder fing mal klein an.
King bemerkte Blades Blick und bedeutete ihm, näherzukommen, um Abigail nicht zu stören. „Sie stellt gerade eine Titelliste zusammen. Auf der Jagd hat sie am liebsten ihren MP3-Player dabei. Sozusagen ihre persönliche Filmmusik.“ Er warf Abigail einen fast zärtlichen Blick zu. „Darkcore, Trip-Hop. Alles, was sich die Kids heute so anhören.“ Dann lächelte er. „Ich bin mehr ein Fan von Kenny G.“
Beide sahen sie zu, wie Abigail auf das Touchpad tippte und ihre silbernen Ohrhörer einsetzte, während die Titelliste auf die Festplatte ihres MP3-Players überspielt wurde. Zufrieden lächelnd lehnte sich zurück, als der Bass von „A Day at the Races“ von Jurassic 5 ertönte.
Das war ihre Musik.
Blade ließ den Motor des Cruisers aufheulen, dann fuhr er aus dem Lagergebäude in Richtung Innenstadt, deren Straßen in hellen Sonnenschein getaucht waren.
Sie hielten vor einer vergammelten Bar, die ein ganzes Stück von der edleren Downtown entfernt war. Der Cruiser machte einen Satz, als er die Bordsteinkante überfuhr und vor der Eingangstür zum Stehen kam.
Abigail und King lösten ihren krampfhaften Griff um die Armlehnen, die Knöchel weiß von der festen Umklammerung. Sie starrten Blade an, während rings um den Wagen Rauch von den strapazierten Reifen aufstieg.
Das erklärte das mitgenommene Aussehen des Wagens, mit dem der Daywalker sonst unterwegs war.
Blade ignorierte die beiden und deutete auf ein Vampirschriftzeichen, das inmitten von Graffiti und Konzertplakaten an der Hauswand zu sehen war. Diese archaischen Symbole standen für Vampirsprüche, die der jeweilige Eigentümer aussuchte, um sein Territorium auf die gleiche Weise zu kennzeichnen, wie sie ihre menschlichen Vertrauten brandmarkten.
Soweit Blade das erkennen konnte, basierten die Schriftzeichen auf Passagen der angebeteten Vampirbibel, einem antiken Text mit Namen Buch von Erebus. Es war in Akkadisch auf Pergament geschrieben worden, das man aus Menschenhaut hergestellt hatte. Vor einigen Jahren war es ihm gelungen, die älteste Fassung dieser so genannten Bibel aufzutreiben und zu vernichten, doch Gerüchte besagten, dass immer noch Fragmente des Buchs existierten. Rückblickend wünschte er sich, er hätte einen Blick hineingeworfen, ehe er es verbrannt hatte. Möglicherweise hätte er dort etwas Nützliches über ihren neuen Gegner erfahren.
Blade verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Stattdessen holte er sein Schwert zwischen den Vordersitzen hervor, sprang aus dem Cruiser und ging zielstrebig zum Eingang der Bar.
Die muffige Atmosphäre in der Bar haftete wie eine zweite Haut an den zwielichtigen Gästen des Lokals. Aus den Lautsprechern drang ein Jazz-Trance-Remix, der die düstere Stimmung nur noch verstärkte, die in erster Linie durch die schwarzgestrichenen Fenster ausgelöst wurde. Über der Theke flackerte ein rotes Neonschild, das für diverse Getränke warb, manche davon legal, andere nicht.
Ein Mann, der wie ein Hafenarbeiter angezogen war, saß auf einem Hocker an der Theke. Schwermütig starrte er in das Glas in seiner Hand, das er leicht kreisen ließ. Er hatte Bacardi mit Cola bestellt, aber das hier schmeckte nach etwas, das längst nicht so hochprozentig und zudem mit Zucker verschnitten worden war. Vermutlich war das sogar noch eine schmeichelnde Untertreibung, so wie er die Barkeeperin kannte.
Aber er hatte dafür bezahlt, dann würde er es verdammt noch mal auch trinken.
Der Mann hieß Jack Hoop. Er kam an jedem Werktag in diese Bar, und das mit der Präzision eines Uhrwerks. Einerseits brauchte er etwas, um sich von der Nachtschicht unten an den Docks zu erholen. Vor allem aber ging es ihm darum, nicht zu schnell zu seiner Frau Sally-Anne zurückkehren zu müssen.
Vermutlich würde mancher sagen, dass Sally eine gute Frau war. Nur, dass sich dieses „Gute“ auf eine höchst unangenehme Weise zeigte, unter anderem in ihrem Putz- und Ordnungstick, der Hoop im günstigsten Fall ein wenig auf die Nerven ging.
Nicht nur, dass seine Hände sauber zu sein hatten, nein, sie mussten klinisch sauber sein, so wie sein Gesicht, seine Stiefel und jede andere Körperpartie, die sie mit ihrem in Desinfektionsmittel getränkten Lappen erreichen konnte. Wenn er nach Hause kam, durfte er nicht einfach hereinkommen und sich auf die Couch setzen, schließlich konnte er Krankheitserreger hereinschleppen, die sich im Haus ausbreiten könnten.
Am schlimmsten war dabei, dass ihr Reinlichkeitsfimmel sich auf ihr Schlafzimmer erstreckte. Sally weigerte sich rigoros, Hoop zu nahe zu kommen, solange sie nicht geduscht, sich die Zähne geputzt, die Fingernägel geschrubbt und nochmals geduscht hatten. Hoop war meistens längst auf dem Bett eingeschlafen, wenn Sally endlich aus dem Badezimmer kam. Nach sechs Jahren Ehe waren sie noch immer kinderlos.