Blade ließ die Luft langsam aus seinen Lungen entweichen, da er versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Drake durfte ihm keine Schwäche anmerken. Schweiß lief ihm von der Stirn in den Augenwinkel. Er wischte sich daraufhin das Kinn ab, wobei er versuchte, es wie eine zufällige Geste aussehen zu lassen.
Jäger und Gejagter standen sich auf dem Dach gegenüber und sahen sich abschätzend an.
Blade sprach als Erster: „Warum hast du Vance getötet?“
Drake zuckte mit den Schultern. „Er war überflüssig geworden, er war nur noch eine Belastung.“ Drake schien das Thema nicht zu gefallen. Er sah Blade interessiert an und sagte: „Dein Schwert… ich habe dieses Heft schon einmal gesehen. Vor acht oder neun Jahrhunderten.“ Beeindruckt kehrte sein Blick zu Blades Augen zurück. „Der Jäger, der es trug, war ein guter Kämpfer.“ Drake drückte das Baby fester an sich und zeigte auf das Schwert. „Auf seine Weise war er ein ehrbarer Kämpfer. Er starb eines guten Todes.“
Blade nahm ihm das nicht ab. „Davon weiß ich nichts.“
„Du lügst.“ Drake sprach die Worte ohne Verärgerung, sondern sagte es wie eine simple Feststellung. „Du bist Teil einer großen Tradition, Blade. Ihr Jäger habt meinem Volk seit dem Tag zu schaffen gemacht, da wir das erste Mal auf der Erde wandelten.“ Er rieb sein Kinn. „Und ich habe sie auslöscht. Einen nach dem anderen.“
Er wandte sich von Blade ab, sah das Baby an und stupste es vorsichtig ans Kinn. Es griff mit seinen rosigen, rundlichen Händen nach ihm, als wollte es irgend etwas Essbares zu fassen bekommen. Drake lächelte, aber nicht auf eine boshafte Weise. Menschen waren so zerbrechlich, und doch taten sie so, als könne nichts sie umbringen. Das war die größte Schwäche der Menschen, seltsamerweise aber auch ihre größte Stärke.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Blade sich mit der Entscheidung herumquälte, die er treffen musste. Er konnte förmlich hören, was in Blades Kopf vorging. Das war die große Gelegenheit für ihn. Der König der Vampire allein auf einem Dach, ohne Möglichkeit, die Flucht zu ergreifen. Aber was war mit dem Baby? Sollte er sich auf Drake stürzen, so dass sie alle drei zu Tode kamen? Oder sollte er versuchen, den Kleinen erst noch zu retten?
Drake lachte leise und nahm das Baby in den anderen Arm, während er einen Schritt zurück zur Dachkante machte. Der Sturz über sechs Stockwerke in die Tiefe würde ihm nichts anhaben, aber der Daywalker würde ihn nicht so unversehrt überstehen. Wenn er überlebte und das Baby kam zu Tode, dann würde es ihn noch eine Spur berechenbarer machen, da er noch mehr auf Vergeltung sinnen würde. Genau das wollten die Vampire.
Blade bewegte sich mit Drake, wobei sein Blick immer wieder zu dem Kind wanderte. Angestrengt überlegte er, wie er den Vampir aufhalten konnte. Dann sagte er das Erste, was ihm in den Sinn kam: „Wieso kannst du das Tageslicht ertragen?“
Drake lächelte stolz. „Das konnte ich schon immer. Hast du nicht Bram Stokers Geschichte gelesen? Ich bin der erste Vampir. Ich bin einzigartig.“
Blade ging ein Licht auf, und er redete weiter, ehe er sich bremsen konnte. „Darum haben sie dich zurückgeholt.“
Drake nickte. Es machte nichts aus, wenn der Daywalker von seinem Plan wusste. Es würde alles nur noch interessanter machen, wenn es daran ging, ihn endlich zu töten. „Ja“, erwiderte er. „Meine Kinder wollen die Eigenschaften in meinem Blut isolieren, die mich gegen Sonnenlicht unempfindlich machen.“ Er sah wieder auf das Kind in seinem Arm hinunter. „Sie glauben, dass durch mich jeder von ihnen ein Daywalker werden kann.“
Plötzlich drangen laute Rufe auf das Dach. Drake sah nach unten, wo sich eine überraschend große Zahl Schaulustiger eingefunden hatte und zu ihm nach oben zeigte.
„Die Welt hat sich verändert, seit ich mich das letzte Mal schlafen gelegt hatte“, meinte Drake nachdenklich. „Wie überlaufen sie doch heute ist.“ Sein Blick wanderte zu Blade. Mit einem Kopfnicken deutete er auf die Menschenmenge. „Sieh sie dir nur an. Ein Leben so kurz wie das einer Eintagsfliege. Glaubst du, sie werden jemals begreifen können, was es heißt, unsterblich zu sein, so wie wir?“
Blade sah Drake verächtlich an. Wollte er sie beide tatsächlich auf eine Stufe stellen? Wütend verzog er den Mund. „Du bist nicht unsterblich. Hunderte von deinen Leuten haben das schon behauptet, und jeder von ihnen starb durch mein Schwert.“
Blade verlagerte sein Gewicht auf seine Fußballen, während er zugleich die Knie minimal beugte, um sich zum Sprung bereit zu machen. Er musste das Baby retten.
Drake musste unwillkürlich lächeln. So oft hatte er diese Worte schon gehört, dass er es längst nicht mehr mitzählte. Trotzdem schadete es nichts, den jungen Jäger ein wenig aufzuheitern. „Vielleicht wird mir das auch widerfahren“, sagte er und trat noch zwei Schritte nach hinten. „Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass du vor mir sterben wirst.“
Während Blade seine Muskeln sprungbereit anspannte, rief Drake auf einmaclass="underline" „Fang auf!“
Dann warf er ihm das Baby zu.
Ohne nachzudenken, hechtete Blade einen Riesensatz nach vorn und drehte sich mitten im Sprung, um das Kind aufzufangen, ehe es auf dem Betondach aufschlagen konnte.
Blade fiel auf den Rücken und kam mit einer fließenden Bewegung wieder auf die Beine, wobei er das Kind an seine breite Brust drückte. Als er sich umdrehte, war von Drake nichts mehr zu sehen.
„Scheiße!“
Drei Blocks entfernt im Vance Institute stemmte Abigail ihre Knie am Schreibtisch ab und legte die Hände um das Ende des Silberpflocks, der aus Kings Brust ragte. Sie betrachtete das weiße Gesicht ihres Kameraden, ihre Augenbrauen hatte sie hochgezogen, ihre Frage blieb aber unausgesprochen.
King nickte kaum merklich, sein Blick war starr auf das zerschmetterte Fenster gerichtet.
Ehe er es sich noch einmal überlegen konnte, zog sie den Pflock heraus, der sich mit einem schmatzenden Geräusch löste und an dem das dickliche Blut klebte. King schrie vor Schmerz auf und drückte eine Hand auf die Wunde. Abigail fing ihn auf, als er vom Tisch rutschte und beinahe das Bewusstsein verlor.
Langsam ließ sie ihn auf den Boden herunter und half ihm, sich gegen die Wand am Fenster zu lehnen. King hielt die Hand auf die klaffende Wunde gepresst, die schreckliche Schmerzen verursachte. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, durchtränkte seine Kleidung und bildete eine kleine Pfütze unter ihm.
„Jesus, das tut weh!“ King wischte sich mit einer zitternden Hand über die Stirn und kniff die Augen zusammen, um nicht in einen Schockzustand zu verfallen. „Ich will wieder ein Vampir sein. Scheiße!“ Er atmete hastig, während er auf das Fenster deutete. „Hast du den Typ gesehen? Wir werden verlieren. Verdammt, wir werden verlieren!“
Er verstummte stöhnend.
Abigail ignorierte ihn ganz bewusst, während sie mit ihrem Taschenmesser sein T-Shirt aufschnitt. Nach ihrer Miene zu urteilen, war es nicht das erste Mal, dass sie so etwas machte. Aus ihrem Gürtel zog sie eine kleine Spraydose.
„Was ist das?“, fragte King argwöhnisch.
„Fibrin-Dichtungsschaum. Ein elastisches Protein.“ Sie deutete auf seine Brust. „Hilf mir, die Wunde aufzuhalten. Der Schaum soll die Blutung im Inneren stoppen.“
Sie ging über seinen beunruhigten Ausdruck hinweg und zog an den blutigen Rändern. King begann, schneller und lauter zu atmen, als er den Schmerz bekämpfte.
„Hey“, er stieß sie leicht an, während er nach Luft schnappte. „Wie verabschieden sich lesbische Vampire?“
Abigail schüttelte die Dose. „Halt die Klappe, King.“
Er grinste schwach. „Dann bis in achtundzwanzig Tagen…“ Seine Stimme wurde leiser, während er in Ohnmacht fiel.
13
Viele Stunden später im Hauptquartier der Nightstalker stand Abigail im Duschraum nackt vor dem gesprungenen Spiegel. Mit ausdrucksloser Miene und in Gedanken versunken starrte sie ihr Spiegelbild an. Sie sah so aus, wie sie sich fühlte – erschöpft und mitgenommen, und mit dem Blut eines anderen beschmiert. Die Platzwunde auf der Wange, die Drake ihr zugefügt hatte, war deutlich angeschwollen und nahm eine bemerkenswerte Blaufärbung an. Dazu passte die Prellung an ihrem Oberschenkel, den sie sich am Schreibtisch angestoßen hatte.