Ein merkwürdiges Geräusch drang an Drakes Ohren – das ferne Heulen von Sirenen. Unter großer Anstrengung hob er seinen Kopf. Zwar war ihm das Geräusch nicht bekannt, doch es war nicht schwer, seine Bedeutung zu erraten. Er wandte sich wieder Blade zu und sagte in amüsiertem, fast konversationsartigen Tonfalclass="underline" „Die Menschen sind jetzt hinter dir her, weißt du das?“ Er lachte, doch aus dem Lachen wurde schnell ein ersticktes Keuchen. „Für sie sind wir beide gleich…“
Die Stimme des Königs der Vampire wurde leiser und verstummte. Sie waren nicht gleich. Blades Existenz hatte einen Sinn. Blade besaß Ehre. Für Drake galt keines von beiden.
Er schnappte ein letztes Mal nach Luft, um sich dann der Ewigkeit hinzugeben. „Gestatte mir eine letzte Gunst. Ein Abschiedsgeschenk…“
Drake wandte seinen Kopf wieder Blade zu und bohrte seinen Blick in Blades Augen. Dann starb Drake.
Tödliche Stille lag über dem Atrium, als sich der Staub langsam legte und wie ein Leichentuch auf die am Boden Liegenden herabsank.
Dann waren auf einmal aus dem angrenzenden Korridor hastige Schritte zu hören, eine Tür wurde aufgerissen, und Abigail und King stürzten herein. Sie bewegten sich so schnell, wie ihre geschundenen Körper es zuließen.
Sie eilten zu Blade. Abigail nahm seine Hand, während King seine Schultern packte, ihn schüttelte und seinen Namen rief. Aber sie waren zu spät gekommen. Der Daywalker lag im Sterben, das Ende war nah, aus den tiefen Wunden in der Brust und an seiner Seite strömte immer noch das Blut.
Von Drake war nichts zu sehen. Der König der Vampire war verschwunden.
Abigail blickte Blade an. Er lag erstarrt inmitten der Trümmer, atmete in kurzen Zügen, während das Leben Tropfen für Tropfen aus ihm entwich. Er war so zusammengeschlagen worden, dass man kaum erkennen konnte, wo die eine Verletzung endete und die nächste begann. Sein Gesicht war durch den Blutverlust grau geworden, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, die in sein dunkles Haar liefen und sich mit dem Blut vermischten.
Ihr stiegen Tränen in die Augen, die sie alles nur noch verschwommen sehen ließen, doch diesmal wischte sie sie nicht weg. Blade hatte sich für sie geopfert. Nicht nur für sie und King, sondern für die ganze Menschheit. Eine Rasse, die ihm immer nur Schmerz zugefügt hatte. Doch ihm hatte sie so sehr am Herzen gelegen, dass er nun hier lag und wie ein geschlachtetes Schwein ausblutete.
Ein Schaudern lief durch Blades Körper, die Luft entwich pfeifend aus seinen verletzten Lungen, während er zu atmen versuchte. Abigail wich zurück. Sie hatte an diesem Tag genug Tote gesehen. Sie überlegte, ob sie irgend etwas sagen sollte, um den Daywalker zu trösten, oder ob es irgendein letztes Ritual zu vollziehen gab. Denn so wie der große Kerl aussah, hatte er nicht mehr lange zu leben.
Kein Mensch konnte das lebend überstehen, was ihm zugefügt worden war.
Blades Augen zeigten ihm nur ein unscharfes Bild, als er durch Abigail und King hindurchsah, durch die verblassenden, flüchtigen Umrisse seiner eigenen Welt, bis nichts anderes mehr da war als sein allmählich langsamer werdender Herzschlag, der laut in seinen Ohren dröhnte.
Die Welt verschwamm vor seinen Augen, und er hatte das Gefühl, als falle er rückwärts durch die Erde, als schrumpfe sein Geist zusammen und dehne sich gleichzeitig aus, als werde er unaufhaltsam in ein Schwarzes Loch gezogen, in dem es nur das Nichts gab. Blade merkte, wie Schmerz und Verwirrung schwächer und durch ein warmes, glühendes Gefühl ersetzt wurden, das ihn wie ein Dunst aus flüssigem Licht einhüllte.
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich vollkommen.
Abigail rief nach Blade, schüttelte ihn, doch er konnte sie nicht mehr hören. Die Welt bewegte sich in einem rasenden Wirbel aus Dunkelheit von ihm fort, während er in die Ströme des Vergessens gezogen wurde.
Als er die Augen schloss, huschte der Hauch eines Lächelns über seine Lippen.
Sie hatten es geschafft.
Sie hatten Drake und mit ihm den Rest der Vampirrasse besiegt.
Sie hatten gewonnen.
Mit diesem Gedanken wurde Blades Welt schwarz.
21
Die Behörden brauchten nicht lange, um am Ort des Geschehens einzutreffen. Als der Morgen anbrach, fuhr die Polizei mit allen verfügbaren Kräften zu den Phoenix Towers, da überall im Gebäude Alarm ausgelöst worden war. Kurz nach der Polizei trafen das FBI, die Feuerwehr und seltsamerweise auch die Hundefängertruppe dort ein.
Als sich die Sonne tiefrot über dem Horizont erhob, trafen auch Cumberland und Haie in ihrem FBI-Helikopter am Ort des Geschehens ein. Noch bevor die Alarmanlagen ausgelöst worden waren, hatte es Meldungen über Ruhestörungen gegeben. Außerdem hatten zwei Augenzeugen bei der Polizei angerufen und einen Mann gemeldet, der ins Haus eingedrungen war. Die Beschreibungen passten auffallend gut zu Blade. Die beiden Detectives hatten darin mehr als nur einen Zufall gesehen, zumal sie sich hinsichtlich ihrer Karriere in einer Situation befanden, in der sie sich keine weiteren Pannen mehr leisten konnten.
Der Hubschrauber landete auf dem Vorplatz und Cumberland und Haie sprangen heraus. Sie sahen, dass sich hinter ihnen ein Konvoi aus Polizei- und FBI-Fahrzeugen dem Gebäude näherte, also beeilten sie sich und ergriffen ihre Ausrüstung. Sie bahnten sich den Weg zwischen den Schaulustigen hindurch, die vor dem Gebäude zusammengekommen waren, zogen ihre Waffen und stürmten zum Haupteingang, dicht gefolgt von Dutzenden von FBI-Agenten und Polizisten. Wenn Blade in diesem Haus war, dann wollten die beiden als Erste am Tatort eintreffen. Sie hatten Blade schon einmal verloren, ein zweites Mal würde ihnen das nicht passieren.
Im Penthouse fielen die ersten Sonnenstrahlen durch die zerbrochenen Jalousien und ließen die verstreut herumliegenden Vampirleichen in Flammen aufgehen. Als Cumberland und seine Leute den Raum betraten, fanden sie auf dem zerborstenen Marmorboden nur noch Aschereste vor, die die Form von Menschen aufwiesen.
Cumberland blieb am Eingang zum Atrium stehen, während seine Leute ausschwärmten. Er konnte nicht fassen, was er mit eigenen Augen sah. Das Penthouse sah aus, als hätte jemand mit einer Abrissbirne gewütet. Die zertrümmerten Wände knirschten bedenklich, als sich die Agenten ihren Weg über Berge von Schutt bahnten und nach Überlebenden Ausschau hielten. Überall lagen zerbrochene Statuen auf dem Boden, und eine Wand sah aus, als hätte sie jemand mit einem riesigen Dosenöffner aufgerissen.
Davon abgesehen war der Raum völlig leer.
Cumberland musste heftig niesen und hielt sich ein parfümiertes Taschentuch vor den Mund. Ein Glück, dass er nicht derjenige war, der den Bericht schreiben musste.
Während er sich verwirrt umsah, ertönte aus dem hinteren Teil des Atriums ein Ruf. Cumberland lief los und zückte seine Handschellen.
Sie hatten ihn gefunden! Endlich!
Er lief um die Ecke und rutschte auf dem seltsam gefärbten Staub aus, der alles überzog.
Dann blieb er stehen.
Sehr langsam steckte er seine Handschellen weg. Dann setzte er sich auf den zerschlagenen Sockel einer Statue und starrte auf den Fund. Enttäuscht und geschlagen ließ er die Schultern sinken.
Auf dem Boden des Atriums lag ein regungsloser Blade, der zum Teil von Schutt bedeckt war. Sein Blick war gebrochen. Sein Körper war kalt und steif.
Damit hatte das FBI endlich seinen Verdächtigen gefunden.
Nur nicht auf die Art und Weise, wie man ihn hatte stellen wollen.
Später an diesem Tag standen Cumberland und Haie im Leichenschauhaus des FBI und blickten mit betrübter Miene auf den Autopsietisch. Schweren Herzens schauten sie zu, wie drei Gerichtsmediziner Blades Leichnam auf den Tisch legten. Für ihre Ermittlungen gab es nur noch wenig Hoffnung. Whistler war tot, und nun auch Blade, der ein ganzes Leben ungelöster Kriminalfälle und drei Jahre Arbeit der beiden Detectives mit in den Tod genommen hatte. Sie konnten nur hoffen, dass sich ein paar DNS-Proben finden ließen, die zu denen passten, die bereits in den Akten vermerkt waren.