Aber vor ihnen lagen jetzt die schmaler werdenden Engstellen. Die Fahrt von DuMartheray war schon fast vorbei. Warum waren die guten Tage immer so kurz? Von Moment zu Moment, von Tag zu Tag — alle so erfüllt und, ach, so lieblich — und dann für immer vergangen, vergangen, ehe es möglich war, sie voll in sich aufzunehmen, und sie wirklich zu leben. Man segelte durch das Leben und schaute zurück auf das Kielwasser, die hohe See, den fliegenden Wind... Jetzt stand die Sonne tief, das Licht fiel schräg über die Meeresklippen und betonte all ihre wilden Unregelmäßigkeiten, ihre Überhänge, Höhlen und nackten Flächen, die direkt in die See abfielen, roter Fels in blauem Wasser, alles unberührt von Menschenhand (obwohl das Meer selbst ihr Werk war). Plötzlich zuckten in ihr strahlende Fragmente. Aber die Sonne war dabei zu verschwinden, und die Unterbrechung in den Meeresklippen markierte schon den ersten großen Hafen in der Meerenge, Rhodos, wo sie anlegen und den Abend erwarten würden. »Ah, ich lebe wieder«, sagte sie zu sich und wunderte sich, daß das hatte geschehen können. Michel und seine Tricks — man würde meinen, sie sei inzwischen gegen all jenen psychiatrisch-alchemistischen Hokuspokus immun geworden. Es war mehr, als ihr Herz ertragen konnte. Aber immerhin besser als die Dumpfheit, das war sicher. Und es hatte einen gewissen schmerzlichen Glanz, diese akute Empfindung. Sie konnte sie ertragen, vielleicht sogar irgendwie genießen, stückweise. Eine erhabene Intensität wohnte diesen Farben des späten Nachmittags inne. Alles war davon durchdrungen. Und unter einer solchen Flut nostalgischen Lichts wirkte der Hafen von Rhodos prachtvoll. Der große Leuchtturm auf dem Westkap, das Paar tönender Bojen rot und grün, backbord und steuerbord. Dann hinein in das dunkle Wasser eines Ankerplatzes und in die Ruderboote, in das entschwindende Licht, über schwarzes Wasser durch eine Menge exotischer Schiffe vor Anker, die alle verschieden waren. Der Schiffsbau steckte in einer Periode rapider Neuerung, wo neue Materialien fast alles möglich machten und die alten Konstruktionen neu erfunden und drastisch verändert wurden, um dann wieder aufgegriffen zu werden. Da ein Klipper, dort ein Schoner und da etwas mit Auslegern... Endlich legte man bei Dunkelheit in einem belebten hölzernen Dock an.
Hafenstädte in der Dämmerung waren alle gleich. Eine Corniche, ein schmaler gekrümmter Park, Baumreihen, ein Bogen baufälliger Hotels und Restaurants hinter den Werften... Sie stiegen in einem dieser Hotels ab und schlenderten dann durch das Dock, aßen unter einer Markise, genau, wie Maya es erwartet hatte. Sie entspannte sich in der bodenständigen Stabilität ihres Stuhls, beobachtete, wie flüssiges Licht sich in einer Schleife über das zähe Wasser des Hafens ergoß, hörte Michel zu den Leuten am Nachbartisch sprechen und kostete das Olivenöl und das Brot, die Käsesorten und den Ouzo. Es war seltsam, wie sehr Schönheit manchmal schmerzte — sogar Glück. Dennoch wünschte sie, das lässige Sichräkeln nach dem Essen in ihren harten Stühlen könnte für immer weitergehen.
Natürlich war das nicht der Fall. Sie gingen Hand in Hand nach oben zu Bett. Sie hielt Michel so fest, wie sie überhaupt konnte. Am nächsten Tage holten sie ihr Gepäck durch die Stadt zum inneren Hafen, gleich nördlich der ersten Kanalschleuse und brachten es in ein großes Kanalschiff, lang und luxuriös, wie ein zum Kreuzfahrtschiff gewordener Lastkahn. Sie waren zwei von etwa hundert Passagieren, die an Bord gingen. Darunter waren Vedana und einige ihrer Freunde. Und ferner waren, einige Schleusen vor ihnen, auf einem privaten Kanalschiff, Jackie und ihr Gefolge, die sich auch anschickten, nach Süden zu fahren. Während einiger Nächte würden sie in den gleichen am Kanal liegenden Städten anlegen. »Interessant«, sagte Maya gedehnt; und Michel machte dazu ein zugleich erfreutes und besorgtes Gesicht.
Das Bett des Großen Kanals war von einer Luftlinse eingeschnitten worden, die konzentriertes Sonnenlicht von der Soletta herunterstrahlte. Die Linse hatte sich sehr hoch in der Atmosphäre befunden, auf der thermischen Wolke von Gasen gleitend, die von dem geschmolzenen und verdampften Gestein hochgeschleudert wurde. Sie war in geraden Linien geflogen und hatte sich ihren Weg ohne die geringste Rücksicht auf topographische Details quer über das Land gebrannt. Maya erinnerte sich undeutlich, seinerzeit Bilder des Prozesses gesehen zu haben; aber die Fotos waren natürlich aus einiger Entfernung gemacht worden und hatten sie keineswegs auf die schiere Größe des Kanals vorbereitet. Ihr langes flaches Kanalschiff fuhr in die erste Schleuse, wurde durch das einströmende Wasser ein kurzes Stück angehoben, fuhr dann aus einem sich öffnenden Tor hinaus — und plötzlich waren sie in einem vom Wind gekräuselten, zwei Kilometer breiten See, der sich geradlinig nach Südwesten zur Hellas-See erstreckte, zweitausend Kilometer entfernt. Eine große Anzahl großer und kleiner Schiffe waren in beiden Richtungen unterwegs. Dabei hielten sich die kleineren entsprechend den Verkehrsregeln näher an den Ufern. Fast alle Fahrzeuge waren motorisiert, obwohl viele auch mit Reihen von Masten in Schonertakelung prahlten und einige der kleinsten Boote große dreieckige Segel hatten. »Dhaus«, sagte Michel und zeigte hinüber. Offenbar eine arabische Konstruktion.
Irgendwo weiter voraus war Jackies Propagandaschiff. Maya ignorierte es, konzentrierte sich auf den Kanal und schaute abwechselnd auf die beiden Ufer. Der fehlende Fels war nicht ausgehoben, sondern verdampft worden. Wenn man die Ufer betrachtete, konnte man das erkennen. Die Temperaturen unter dem konzentrierten Licht der Luftlinse hatten 5000 K erreicht, und das Gestein war einfach in seine atomaren Bestandteile zerfallen und in die Luft geschossen. Nach der Abkühlung war einiges Material auf die Ufer zurückgefallen und manches auch wieder in den Graben, wo es wie Lava kleine Teiche gebildet hatte. Darum hatte der Kanal ein flaches Bett erhalten und Ufer, die einige hundert Meter hoch und beide über einen Kilometer breit waren: Abgerundete schwarze Schlackendeiche, auf denen, abgesehen von den mit Sand gefüllten gelegentlich Rissen, nur sehr wenig wachsen konnte, so daß sie fast genauso kahl und schwarz waren wie nach ihrer Erkaltung vor vierzig m-Jahren. Das Kanalwasser sah unter den Ufern schwarz aus, in der Mitte des Kanals ging es zur Himmelsfarbe über oder vielmehr zu einer Tönung, die gerade ein wenig dunkler war als die des Himmels. Ohne Zweifel eine Folge des dunklen Bodens, mit den grünen Zickzackstreifen überall.
Der Obsidiansteg der zwei Ufer, die gerade Scharte aus dunklem Wasser dazwischen, Schiffe und Boote aller Größen, viele davon lang und schmal, um in den Schleusen möglichst viel Raum zu haben; dann alle paar Stunden eine Stadt am Ufer, in die Seite gehauen und sich dann auf der Höhe des Deichs ausbreitend. Die meisten Städte waren von den kanalsüchtigen Astronomen nach den Kanälen und Flüssen des klassischen Altertums benannt worden. Die ersten Städte, an denen sie vorbeikamen, lagen dem Äquator recht nahe und waren von Palmhainen eingefaßt, mit hölzernen Docks vor kleinen Uferdistrikten und in der Höhe liebliche Terrassen. Die meisten Städte lagen auf den ebenen Flächen der Deiche. Natürlich hatte die Linse bei ihrem geraden Schnitt ein Kanalbett gegraben, das direkt die Große Böschung bis auf die Hochebene von Hesperia hinaufführte — mit einem Höhenanstieg von rund vier Kilometern. Darum war der Kanal alle paar Kilometer durch einen Schleusendamm gesperrt. Diese Dämme hatten, wie in jenen Tagen überall, durchsichtige Wände und sahen so dünn aus wie Zellophan, waren aber um viele Größenordnungen stärker als nötig, um das Wasser zu halten. So sagte man. Maya fand diese Klarheit von Fensterscheiben anmaßend, als ein Stück der launischen Überheblichkeit, auf das eines Tages bestimmt die Strafe folgen würde, wenn eine der dünnen Wände wie ein Ballon platzte und eine verheerende Zerstörung anrichten würde und die Leute wieder auf den guten alten Beton und die Kohlefaser zurückgreifen würden.