Aber so erinnerte die Annäherung an jede Schleuse an die Fahrt auf eine Wassermauer zu, die aussah wie das Rote Meer, das sich vor den Israeliten geteilt hatte. Fische sprangen über ihren Köpfen umher wie primitive Vögel, ein surrealer Anblick, wie etwas aus einer Zeichnung von Escher. Dann in eine Schleuse hinein wie in einen Sarkophag aus Wasserwänden, bewohnt von diesen Vogelfischen; und dann immer weiter nach oben und hinaus auf ein neues Niveau des großen Stroms mit seinen geraden Seiten, der das schwarze Land durchschnitt. »Bizarr«, sagte Maya nach dem ersten Blick und auch nach dem zweiten und dritten. Und Michel grinste nur und nickte.
Am vierten Abend der Reise legten sie bei einer kleinen Stadt am Kanal an, die Naarses hieß. Auf der anderen Seite des Kanals befand sich eine noch kleinere Stadt namens Naarmalcha. Offenbar mesopotamische Namen. Ein Terrassenrestaurant oben auf dem Deich bot einen Ausblick, der den Kanal weit einsehbar machte und hinter dem Kanal auf die dürren Gebirge zu seiner Seite schwenken ließ. Voraus konnten sie sehen, wo der Kanal durch den Wall des Kraters Gale schnitt, der mit Wasser geflutet war. Gale war jetzt ein Buckel im Kanal, ein Halteplatz für Schiffe und Verladeplatz.
Nach dem Abendessen stand Maya auf der Terrasse und schaute durch die Lücke auf Gale. Aus der dunklen Dämmerung traten Vendana und einige Gefährten zu ihr. »Wie gefällt dir der Kanal?« fragten sie.
»Sehr interessant«, erklärte Maya knapp. Sie mochte es nicht, wenn man ihr Fragen stellte oder sie den Mittelpunkt einer Gruppe bildete. Das war zu sehr, als wäre man ein Schaustück im Museum. Sie würden nichts aus ihr herausbringen. Sie starrte sie an. Einer der jungen Männer unter ihnen gab auf und sprach eine Frau in ihrer Nähe an. Er hatte ein außerordentlich schönes Gesicht. Die Züge wirkten wie gemeißelt unter einer Fülle schwarzen Haares, ein freundliches Lächeln und unbewußtes Lachen. Alles in allem fesselnd. Jung, aber nicht so jung, daß er ungeformt wirkte. Er sah möglicherweise indisch aus — so dunkle Haut, so weiße regelmäßige Zähne, kräftig, schlank wie ein Windspiel, ein gutes Stück größer als Maya, aber nicht einer jener neuen Riesen — immer noch im menschlichen Maßstab, unbefangen, aber solide und anmutig. Sexy.
Sie bewegte sich langsam auf ihn zu, als die Gruppe zu der entspannteren Haltung einer Cocktailparty überging. Sie gingen umher, plauderten und schauten auf den Kanal und die Docks hinunter. Endlich erhielt sie eine Chance, mit ihm zu sprechen; und er reagierte nicht, als ob Helena von Troja oder die fossile Lucy näher gekommen wären. Es wäre herrlich, einen solchen Mund zu küssen. Das kam natürlich nicht in Frage, und eigentlich wollte sie es auch gar nicht. Aber sie dachte gern darüber nach; und der Gedanke wirkte anregend auf sie. Gesichter waren so mächtig.
Sein Name war Athos. Er kam von Licus Vallis, westlich von Rhodos. Sansei aus einer Seefahrerfamilie, die Großeltern griechisch und indisch. Er hatte geholfen, diese neue Grüne Partei zu gründen, überzeugt, daß der einzige Weg, dem Mahlstrom zu entkommen, darin bestünde, der Erde durch ihre Krise zu helfen. Die umstrittene Annäherung eines schweifwedelnden Hundes, wie er mit einem leichten, hübschen Lächeln einräumte. Jetzt war er von den Städten der Nepenthes-Bucht als Repräsentant zur Wahl aufgestellt und half, die Kampagnen der Grünen weithin zu koordinieren.
Maya fragte Vendana später: »Werden wir in einigen Tagen das Wahlkampfboot des Freien Mars einholen?«
»Ja. Wir planen, bei einer Versammlung in Gale über sie zu diskutieren.«
Als sie dann die Gangway hinauf zum Schiff gingen, wandten sich die jungen Leute von ihr ab und scharten sich auf dem Vorderdeck zusammen, um die Party fortzusetzen. Maya war vergessen, sie gehörte nicht dazu. Sie blickte ihnen nach und ging dann zu Michel in ihrer kleinen Kabine nahe dem Heck. Sie kochte vor Erregung. Sie konnte nichts dagegen tun, obwohl sie schockiert war, wenn es geschah. »Ich hasse sie«, sagte sie zu Michel. Und einfach deswegen, weil sie jung waren. Sie hätte das als Haß gegen deren Gedankenlosigkeit, Stupidität, Gefühllosigkeit und ihren ausgeprägten Provinzialismus tarnen können. Das stimmte auch alles. Aber außerdem haßte sie auch ihre Jugend, nicht einfach ihre physische Vollkommenheit, sondern ihr Alter, die schiere Chronologie, die Tatsache, daß sie alles noch vor sich hatten. In der Erwartung lag das Beste, lag alles.
Manchmal erwachte sie aus unbestimmten Träumen, in denen sie nach der aerodynamischen Abbremsung aus der Ares auf den Mars hinunterblickten, und den Orbit in Vorbereitung des Abstiegs stabilisierten. Dann war sie schockiert durch den jähen Rücksturz in die Gegenwart; und sie erkannte, daß das damals der schönste aller Augenblicke gewesen war, diese Woge von Erwartung, die sie trug, als alles da unter ihnen lag und alles möglich schien. Das war Jugend.
»Betrachte sie als Mitreisende«, riet ihr Michel von neuem, wie schon mehrfach zuvor, wenn Maya ihm ihre Gefühle gebeichtet hatte. »Sie werden nur so lange jung sein, wie wir es waren. Ein Schnipsen mit den Fingern — nicht wahr? Und dann sind sie alt und dann dahin. Das machen wir alle durch. Der Abstand eines Jahrhunderts macht auch nur einen Dreck aus. Und von allen Menschen, die jemals existiert haben und die es jemals geben wird, sind diese Menschen die einzigen, die gleichzeitig mit uns leben. Nur die Tatsache, gleichzeitig am Leben zu sein, macht uns alle zu Zeitgenossen. Und deine Zeitgenossen sind die einzigen, die dich wirklich verstehen können.«
»Ja, du hast recht«, sagte Maya. Das war so. »Aber ich hasse sie trotzdem.«
Das Brennen der Luftlinse war überall etwa gleich tief gegangen. Als es daher über den Gale-Krater hinweggezogen war, hatte es einen breiten Streifen durch den Rand an den nordöstlichen und südwestlichen Hängen geschnitten. Aber diese Schnitte waren höher als das Kanalbett anderswo, so daß schmalere Schnitte ausgetieft und Schleusen installiert wurden, wodurch der Krater zu einem hohen See wurde, eine Knolle in der endlosen Qecksilbersäule des Kanals. Das Lowell- System der alten Nomenklatur war hier aus irgendeinem Grunde außer Kraft; und die Schleusen im Nordosten wurden von einer kleinen geteilten Stadt namens Bird’s Trenches flankiert, während die größere Stadt an den südwestlichen Schleusen Banks hieß. Sie bedeckte die Schmelzzone des Brandes und stieg dann in breiten gebogenen Terrassen auf den nicht geschmolzenen Rand von Gale mit Blick auf den See im Innern auf. Es war eine wilde Stadt. Mannschaften und Passagiere vorbeikommender Schiffe stapften die Gangwayplanken hinunter, um sich an dem mehr oder weniger ständigen Festivitäten, die in der Stadt stattfanden, zu beteiligen. An diesem Abend richtete sich diese Party auf die Ankunft der Kampagne Freier Mars. Ein großer Rasenplatz, der auf einer weiten Felsbank über der Seeschleuse hockte, war dicht gedrängt voller Menschen, die auf die Reden warteten, die von einer Bühne auf einem flachen Dach über der Plaza aus gehalten werden sollten. Andere ignorierten den Tumult und machten Einkäufe, gingen spazieren, saßen über der Schleuse und tranken oder aßen Speisen, die sie an kleinen verräucherten Ständen gekauft hatten; oder sie tanzten oder machten sich auf den Weg, um die oberen Bereiche der Stadt zu erkunden.