Das war offenbar eine List; denn sie brauchte keine Hilfe, um durch das Gedränge zu kommen. Aber Antar ergriff ihren Arm und merkte nicht, daß Jackie zu Athos sprach, oder tat so, als ob er es nicht bemerke.
Das war für ihn sowieso eine alte Geschichte. Aber dieser Mikka, der aus der Nähe sehr groß und kräftig wirkte, vielleicht skandinavischer Herkunft, und etwas hitzköpfig aussehend, verfolgte die Gruppe jetzt mit saurer Miene. Maya verzog den Mund, befriedigt, daß der erste Schritt gelungen war. Wenn Mars Zuerst noch isolationistischer war als Freier Mars, dann könnten Unstimmigkeiten zwischen ihnen umso nützlicher sein.
Also tanzte sie mit mehr Begeisterung, als sie seit Jahren empfunden hatte. Wenn man sich allein auf die Baßtrommeln konzentrierte und sich an deren Rhythmen hielt, dann war es wirklich wie das Klopfen eines erregten Herzens. Und über diesem fundamentalen Grundbaß war das Plappern der verschiedenen Holzblöcke, Küchengeräte und runden Steine nicht mehr als ein Magenknurren oder flüchtiger Gedanke. Das ergab einen gewissen Sinn. Keinen musikalischen Sinn, wie sie ihn verstand, aber irgendwie rhythmischen Sinn. Tanzen, schwitzen, beobachten, wie Antar elegant dahinglitt. Er mußte ein Narr sein, zeigte das aber nicht. Jackie und Athos waren verschwunden. Ebenso Mikka. Vielleicht würde er zu einer Nova explodieren und sie alle umbringen. Maya grinste und drehte sich im Tanz.
Michel kam herbei, und Maya schenkte ihm ein breites Lächeln und eine verschwitzte Umarmung. Er machte ein zufriedenes, aber neugieriges Gesicht. »Ich dachte immer, du magst diese Art von Musik nicht.«
»Doch, manchmal schon.«
Südwestlich von Gale stieg der Kanal durch eine Schleuse nach der anderen auf bis zu den Gebirgen von Hesperia. Dort, wo er östlich vom Tyrrhena-Massiv das Hochland überquerte, blieb er ungefähr auf einer Höhe von vier Kilometern, die man jetzt oft als fünf Kilometer über dem Meeresniveau bezeichnete.
Darum bestand kein großer Bedarf an Schleusen. Sie fuhren Tag um Tag mit Motorkraft über den Kanal oder segelten unter der Reihe kleiner Mastsegel des Schiffs dahin. Sie hielten bei einigen Städten am Ufer und fuhren an anderen vorbei. Oxus, Jaxartes, Scamander, Simois, Xanthus, Steropes, Polyphemus. Überall hier machten sie Halt und hielten gleichmäßig Schritt mit der Kampagne des Freien Mars und auch mit den meisten anderen nach Hellas fahrenden Kanalschiffen und Yachten. Die Landschaft dehnte sich nach beiden Horizonten ohne Veränderung aus. Das erschien so, obwohl die Linse in dieser Region gelegentlich durch exotischere Materialien als den gewöhnlichen basaltischen Regolith geschnitten hatte, so daß durch das Verdampfen und Ausfällen einige Variationen und Streifungen von Obsidian oder Eisenschwarz an den Deichen vorgekommen waren. Stellen von strahlender glänzender Farbe, von marmorierten porphyrgrünen Streifen, scharfem Schwefelgelb, klumpigen Konglomeraten, sogar eine ausgedehnte Strecke klarer Glasbänke, die sich auf beiden Seiten des Kanals befanden, unterbrachen den Blick auf das Hochland dahinter und reflektierten den Himmel. Diese Strecke, genannt Glasbänke, war natürlich hochentwickelt. Zwischen den Städten verliefen an den Seiten des Kanals palmenbeschattete Mosaikwege, die Palmen in riesigen keramischen Töpfen, dahinter Villen, umgeben von Rasenflächen und Hecken. Die Städte der Glasbänke waren weißgetüncht, hell mit Pastelljalousien, Blumenkästen an den Fenstern und Türen und blauglasierten Ziegeldächern, sowie langen Neonreklamen über blauen Markisen in den Restaurants am Ufer. Es war eine Art von Traum-Mars, das Kanalclichee eines alten Märchenlandes. Aber dennoch nicht weniger schön, da seine Unverstelltheit Teil des Vergnügens war.
Die Tage ihrer Passage durch dieses Gebiet waren warm und windstill, die Oberfläche des Kanals so glatt wie die Ufer — eine Welt aus Glas. Maya saß auf dem Vorderdeck unter einer grünen Markise und beobachtete die Frachtkähne und Schaufelradboote der Touristen, die ihnen entgegen kamen. Alle waren an Deck, um den Anblick der Glasbänke und der sie schmückenden bunten Städte zu genießen. Dies war das Herz der Touristenindustrie des Mars, das bevorzugte Ziel von Besuchern ferner Welten; lächerlich, aber wahr. Und man mußte zugeben, daß es hübsch war. Beim Anblick der vorbeiziehenden Szenerie kam Maya auf den Gedanken, daß, ganz gleich wer die nächste Wahl gewinnen würde, und wie auch immer der Kampf um die Einwanderung ausfallen mochte, diese Welt wahrscheinlich weiterbestehen würde, glänzend wie ein Spielzeug in der Sonne. Dennoch hoffte sie, daß ihr erster Schritt funktionieren würde.
Als sie weiter nach Süden fuhren, legte der südliche Herbst einen kühlen Hauch in die Luft. An den einst basaltischen Ufern begannen Hartholzbäume zu erscheinen, deren Blätter rot und gelb flammten. Und eines Morgens bedeckte eine dünne Eisschicht das Wasser zu den Ufern hin. Wenn sie oben auf dem Westufer standen, konnten sie die Vulkane Tyrrhena Patera und Hadriatica Patera über den Horizont ragen sehen wie flache Fujis. Hadriatica stellte den gebänderten Maibaum weißer Gletscher auf schwarzem Fels zur Schau, den Maya das erste Mal von der anderen Seite aus gesehen hatte, als sie aus Dao Vallis heraufkam, wo sie vor so langer Zeit ihre Tour durch das überflutete Hellas-Becken gemacht hatte. Mit jenem jungen Mädchen — wie war doch ihr Name? Eine Verwandte von jemandem, den sie kannte.
Der Kanal durchschnitt die Drachenbuckelberge von Hesperia Dorsa. Die Städte entlang des Kanals verloren ihren äquatorialen Charakter, wurden strenger und mehr zu den Gebirgen passend. Städte des Wolgaufers, Neu-Englands Fischerdörfer, aber mit Namen wie Astapus, Aeria, Uchronia, Apis, Eunostos, Agathadaemon, Kaiko... immer weiter führte sie das breite Band des Wassers nach Südwesten, so gerade wie ein Kompaßkurs Tag für Tag, bis es schwer war, sich zu erinnern, daß dies der einzige Kanal war, daß nicht ein Netz solcher Kanäle existierte. Oh, es gab einen weiteren großen Kanal bei Boone’s Neck; aber der war kurz und breit und dehnte sich jedes Jahr weiter aus, da Schleppleinen und die nach Osten gerichtete Strömung an ihm zerrten. Eigentlich kein Kanal mehr, sondern eher eine künstlich angelegte Meeresstraße. Nein, der Traum von den Marskanälen war allein hier verwirklicht worden. Und während man hier ruhig über das Wasser fuhr und der Blick auf alles andere durch die hohen Ufer abgeschnitten war, lag in der Luft ein Gefühl von Romantik, ein Gefühl, das ihre politischen und persönlichen Querelen verblassen ließ.
So etwa fühlte sich der Ausklang eines Abends unter den pastellfarbenen Neonlampen einer Stadt neben dem Kanal an. In Anteus schlenderte Maya die Uferpromenade entlang und schaute hinab auf große und kleine Schiffe, auf junges Volk, das trank und fröhlich schwatzte, da und dort briet man Fleisch in Kohlenbecken, die an die Reling geklammert waren und über dem Wasser hingen. Auf einem breiten Dock, das in den Kanal ragte, war ein Freiluftcafe, von dem der klagende Gesang einer Zigeunergeige ertönte. Maya kehrte instinktiv dort ein und sah erst im letzten Augenblick Jackie und Athos allein an einem Tisch der Kanalseite sitzen, vornübergebeugt, daß sich ihre Stirnen fast berührten. Maya wollte gewiß eine so vielversprechende Szene nicht stören; aber ihr abruptes Stehenbleiben fiel Jackie ins Auge, so daß sie aufschaute und dann hochschreckte. Maya wandte sich zum Gehen, sah aber, daß Jackie sich anschickte herüberzukommen.
Eine weitere Szene, dachte Maya, nicht sonderlich unzufrieden mit der Aussicht. Aber Jackie lächelte, und Athos war an ihrer Seite und beobachtete alles mit großen unschuldigen Augen. Entweder hatte er keine Ahnung von ihrer Vorgeschichte, oder er wußte seine Miene gut zu beherrschen. Maya vermutete das letztere, einfach wegen des Ausdrucks in seinem Blick, der etwas zu harmlos war, um echt zu sein. Ein Schauspieler.