Natürlich hatte sie zu den ersten Erforschern des Hellas-Beckens gehört, in den Jahren gleich nach Underhill. Das war ihr entfallen. Sie hatte geholfen, Lowpoint zu finden, und war dann umhergefahren und hatte das Becken erkundet, ehe das jemand anders getan hatte, vor allem Ann. Darum hatte sie sich später, als sie für Deep Waters arbeitete, ähnlich von der damaligen Szene distanziert gefühlt. »Mein Gott!« rief sie entsetzt. Schicht auf Schicht, Leben um Leben — sie hatte so lange gelebt! Das war irgendwie wie eine Reinkarnation oder ewige Wiederkehr.
Inmitten dieses Gefühls gab es einen kleinen Hoffnungskern. Damals in jenem ersten Gefühl des Entgleitens hatte sie ein neues Leben begonnen. Ja, sie war nach Odessa umgezogen und hatte der Revolution ihren Stempel eingedrückt, indem sie ihr durch harte Arbeit zum Erfolg verhalf und mit vielen Gedanken darüber, warum die Menschen die Veränderung fördern sollten und wie man Veränderungen machen könnte ohne die bitteren Rückschläge zu erleben. Dies war vielleicht schon Jahrzehnte her, schien aber immer wieder auf einen revolutionären Erfolg zurückzuschlagen, der das vernichtete, was daran gut war. Und es sah so aus, als hätte sie diese Bitternis wirklich vermeiden können.
Zumindest bis jetzt. Vielleicht wäre das der beste Weg, um zu durchschauen, was sich bei dieser Wahl abspielte. Irgendein unvermeidlicher Rückschlag. Vielleicht hatte sie nicht so viel Erfolg gehabt, wie sie dachte. Vielleicht hatte sie nur weniger drastisch versagt als Arkadij oder John oder Frank. Wer konnte da sicher sein? Es war so schwer zu sagen, was in der Geschichte wirklich geschah. Das war zu weit und zu unfertig. Es geschah überall so viel, daß alles mögliche an beliebiger Stelle passieren konnte. Kooperativen, Republiken, Feudalmonarchien... ohne Zweifel gab es da draußen im Hinterland orientalische Satrapien, Überbleibsel gescheiterter Karawanen... so daß jede Charakterisierung, die man in der Geschichte machen konnte, irgendwo Gültigkeit haben mochte. Die Sache, mit der sie jetzt beschäftigt war, die jungen Siedlungen, die nach Wasser verlangten, sich aus dem Netz zurückzogen und äußere UNTA-Kontrolle forderten, nein, das war es nicht... etwas anderes...
Aber als sie an der Tür der Praxiswohnung stand, konnte sie sich nicht erinnern, was es war. Sie und Diana würden am nächsten Morgen einen Zug nach Süden nehmen um die südöstliche Biegung von Hellas herum, um Zea Dorsa zu besuchen und den Lavatunnel, den sie zu einem Aquädukt umfunktioniert hatten. Nein. Sie war hier, weil...
Es fiel ihr nicht wieder ein. Es lag ihr auf der Zunge... Deep Waters. Diana. Sie waren gerade damit fertig geworden, Dao Vallis abzufahren, wo auf dem Canyonboden Eingeborene und Immigranten im Tal durch Schaffung einer komplexen Biosphäre unter einer riesigen Kuppel ein landwirtschaftliches Leben begannen. Einige von ihnen sprachen Russisch. Ihr kamen die Tränen, als sie das hörte. Dort — die Stimme ihrer Mutter, scharf und sarkastisch, wenn sie in dem kleinen Küchenwinkel ihres Apartments Kleider bügelte und es durchdringend nach Kohl roch.
Nein. Das war es nicht. Blick nach Westen, wo die See in der trüben Luft schimmerte. Wasser hatte die Sand-Dünen von Ost-Hellas überflutet. Das war mindestens ein Jahrhundert her. Es hatte sein müssen. Sie war aus einem anderen Grund da... Dutzende von Schiffen, kleine Punkte in einem Briefmarkenhafen. Dahinter ein Brackwasser. Es wollte ihr nicht einfallen. Ein schreckliches Gefühl, daß ihr etwas auf der Zunge lag, machte sie benommen, verursachte ihr Übelkeit, als ob sie es durch Erbrechen los werden könnte. Sie hatte sich auf die Stufe gesetzt. Eine Zungenspitze — ihr ganzes Leben! Sie stöhnte laut. Ein Paar Kinder, die Kieselsteine nach den Möwen warfen, starrten sie an. Diana. Sie hatte durch Zufall Nirgal kennengelernt, sie hatten zusammen gespeist ... Aber Nirgal war es schlecht geworden. Auf der Erde!
Und dann kam mit einem physischen Ruck alles wieder, wie ein Schlag auf ihren Solarplexus, als ob eine Welle sie überrollte. Die Kanalreise, ja natürlich, das Tauchen in das überflutete Burroughs hinein, Jackie, die arme Zo, die verrückte Närrin. Natürlich, natürlich. Sie hatte es natürlich nicht vergessen. Es war jetzt ganz offenbar wieder da. Es war nicht wirklich verschwunden gewesen, nur ein momentaner Ausfall in ihrem Denken, während ihre Aufmerksamkeit woanders hingewandert war. In ein anderes Leben. Eine starke Erinnerung hatte ihre eigene Integrität, barg ihre eigenen Gefahren, genau wie es ein schwaches Gedächtnis tat. Es war nur ein Ergebnis des Denkens, daß die Vergangenheit interessanter war als die Gegenwart. Was in vieler Hinsicht stimmte. Aber dennoch...
Immerhin blieb sie lieber noch eine Weile sitzen. Die kleine Übelkeit hielt noch an. Und dann war da ein restlicher Druck im Kopf, als ob das scharfe Stoßen mit der Zunge etwas verletzt hätte. Ja, es war ein übler Moment gewesen. Schwer abzustreiten, wenn man immer noch das Pulsieren von den verzweifelten Stößen der Zunge fühlen konnte.
Sie wartete, bis das Ende der Dämmerung die Stadt in tiefdunkles Orange getaucht hatte und dann in eine leuchtende Farbe wie von Licht, das durch eine braune Flasche scheint. Wirklich Hell’s Gate — das Höllentor. Sie erschauerte, stand auf und ging beklommen die Treppe in den Hafendistrikt hinunter, wo die Restaurants um die Kais helle, von Motten umschwärmte Kugeln von Kneipenlicht ausströmten. Darüber ragte die Brücke wie das Negativ der Milchstraße auf. Maya ging hinter den Docks zum Seeufer.
Dort war Jackie. Sie kam auf sie zu. In einiger Entfernung kamen Assistenten hinterher; aber vorn ging bloß Jackie, die sie erst nicht sah, dann aber bemerkte. Bei Mayas Anblick verzog sich bei ihr ein Mundwinkel, nichts weiter; aber es genügte, um Maya zu zeigen, daß Jackie — wieviel? — neunzig Jahre alt war? Hundert? Sie war schön, sie war stark, aber nicht mehr jung. Ereignisse würden sie treffen, wie es jedem geschah. Geschichte war eine Welle, die sich schneller durch die Zeit bewegte als ein individuelles Leben, so daß Menschen, die nur siebzig oder achtzig Jahre alt geworden waren, hinter der Welle der Zeit zurückgeblieben waren, als sie starben. Und um wieviel mehr jetzt. Kein Surfbrett würde sie mit dieser Welle tragen, nicht einmal ein Vogelanzug, um wie ein Pelikan durch die Luft zu gleiten wie Zo. Ah, das war es! Sie erblickte auf Jackies Gesicht den Tod von Zo. Jackie hatte ihr Bestes getan, um ihn zu ignorieren, um ihn an sich ablaufen zu lassen wie eine Ente das Wasser. Aber das hatte nicht geklappt; und jetzt stand sie in Hell’s Gate über mit Sternen bedecktem Wasser — eine alte Frau.
Maya blieb stehen, schockiert durch diese Vision. Jackie blieb auch stehen. In der Ferne hörte man das Klappern von Tellern und das laute Gebrabbel von Gesprächen in den Restaurants. Die beiden Frauen sahen einander an. Maya konnte sich nicht erinnern, daß das jemals zuvor geschehen war. Dieser fundamentale Akt gegenseitigen Erkennens, als ihre Augen sich begegneten. Ja, du bist real, ich bin real. Hier sind wir, wir beide. Große Glasscheiben, die innen zerspringen. Befreit machte Maya kehrt und ging weg.
Michel fand ein Passagierschiff für sie, das über Minus One Island nach Odessa fuhr. Die Besatzung sagte ihnen, daß man erwartete, Nirgal würde für ein Rennen auf der Insel sein; eine Mitteilung, die Maya erfreute. Es war immer gut, Nirgal zu sehen, und diesmal brauchte er auch ihre Hilfe. Und sie wollte Minus One sehen. Als sie zuletzt dort gewesen war, war es noch keine Insel gewesen, sondern nur eine Wetterstation und eine Landebahn auf einem Buckel im Boden des Beckens.
Ihr Schiff war ein langer niedriger Schoner mit fünf Mastsegeln wie Vogelflügel. Sobald man die Mole verlassen hatte, breiteten die Segel ihre straffen dreieckigen Flächen aus und dann, als der Wind von hinten kam, setzte die Mannschaft vorn einen großen blauen Spinnaker. Darauf sprang das Schiff in die klaren blauen Wogen und warf bei jedem Stoß in eine ankommende Welle Streifen von Gischt auf. Nach der Beengung durch die schwarzen Wände des Großen Kanals war es ein prächtiges Gefühl, wieder auf hoher See zu sein, mit dem Wind im Gesicht und den vorbeiströmenden Wellen. Das blies ihr alle Verwirrungen von Hell’s Gate aus dem Kopf. Jackie war vergessen, und der vorangegangene Monat kam ihr jetzt wie ein Art böswilligen Karnevals vor, den sie nie wieder besuchen mußte. Sie würde nie dahin zurückkehren. Für sie gab es die offene See und ein Leben im Wind! »O Michel, das ist für mich das Leben!«