Nirgal nickte. Er hatte verstanden, worauf es ihr ankam. Sie hätte ihn küssen mögen. Sie nahm ihn fest bei den Schultern, beugte sich vor, küßte ihn auf die Wange und tätschelte seinen Hals. »Nirgal, ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, sagte er mit leichtem Lachen und sah etwas überrascht aus. »Aber schau, ich will nicht in einen politischen Streit verwickelt werden. Nein, hör zu. Auch ich halte das für wichtig und bin dafür, daß wir den Mars offenhalten und der Erde aus dem Bevölkerungsanstieg heraushelfen sollten. Das habe ich immer gesagt, und das habe ich ihnen gesagt, als wir dort waren. Aber ich will nicht in die politischen Institutionen hinein. Das kann ich nicht. Ich werde meinen Beitrag leisten, wie ich es vorher getan habe, verstehst du? Ich komme sehr viel herum, ich sehe viele Leute. Ich werde zu denen sprechen. Ich werde auch wieder auf Versammlungen reden. Auf dieser Ebene werde ich tun, was ich kann.«
Maya nickte. »Nirgal, das wäre großartig. Das ist das Niveau, das wir unbedingt erreichen müssen.«
Sax räusperte sich. »Nirgal, hast du je die Mathematikerin Bao getroffen?«
»Nein, ich denke nicht.«
»Ah!«
Sax versank wieder in seine Träumerei. Maya redete eine Weile über die Probleme, die sie und Michel an diesem Tag erörtert hatten. Daß Immigration wie eine Zeitmaschine wirkte, die kleine Inseln der Vergangenheit in die Gegenwart heraufholt. »Das war auch Johns Sorge, und jetzt geschieht es.«
Nirgal nickte. »Wir müssen an die Areophanie glauben. Und an die Verfassung. Die Menschen müssen danach leben, wenn sie erst einmal hier sind. Die Regierung sollte darauf bestehen.«
»Ja. Aber das Volk, die Eingeborenen, meine ich... «
»Ein Art von assimilationistischer Ethik. Wir müssen alle hineinziehen.«
»Ja.«
»Okay, Maya. Ich werde sehen, was ich tun kann.« Er lächelte ihr zu und fiel dann jäh in Schlaf, direkt vor ihren Augen. »Vielleicht können wir es noch einmal schaffen, he?«
»Vielleicht.«
»Ich muß mich hinlegen. Gute Nacht! Ich liebe dich.«
Von Minus One fuhren sie nach Nordwesten, und die Insel glitt unter den Horizont wie ein Traum vom alten Griechenland, und sie waren wieder auf hoher See mit ihren breiten trägen Wogen. Scharfe Monsunwinde wehten während ihrer ganzen Reise von Nordosten und rissen Schaumkronen ab, die das dunkelpurpurne Wasser noch dunkler erscheinen ließen. Wind und Wasser brüllten unablässig. Man konnte sich nur mit Mühe verständigen und mußte ständig schreien. Die Crew verzichtete völlig aufs Sprechen und setzte soviel Segel wie möglich, wobei sie den Schiffscomputer zwangen, sich mit ihrem Enthusiasmus abzufinden. Die Mastsegel streckten oder refften sich bei jedem Windstoß wie Vogelflügel, so daß der Wind eine visuelle Komponente hatte, die zu den unsichtbaren Bewegungen von Mayas angestoßener Haut paßte. Sie stand am Bug, blickte nach oben und unten, und nahm alles in sich auf.
Am dritten Tag blies der Wind noch schärfer, und das Schiff kam ins Gleiten. Der Rumpf hob sich bis auf einen kleinen Abschnitt am Heck hoch und schlüpfte über das Wasser. Dabei warf er viel mehr Gischt auf, als daß man sich an Deck hätte aufhalten können. Maya zog sich in die erste Kabine zurück, wo sie aus den Bugfenstern blicken und dem Schauspiel beiwohnen konnte. Eine solche Geschwindigkeit! Gelegentlich kamen Mitglieder der Besatzung klatschnaß herein, um Luft zu schnappen und etwas Java zu trinken. Einer von ihnen sagte Maya, daß sie ihren Kurs änderten, um den Hellas-Strom zu berücksichtigen. »Dieses Meer bietet das größte Beispiel für die Corioliskraft beim Entleeren einer Badewanne. Es ist rund, und in den Breiten, wo Monsume das Wasser in die gleiche Richtung drücken wie die Corioliskraft, wirbelt es um die Insel Minus One wie ein gewaltiger Strudel. Wir müssen das rechtzeitig berücksichtigen, sonst landen wir direkt bei Hell’s Gate.«
Die starken Winde hielten an, und sie flogen dahin, den größten Teil des Tages auf dem Wasser gleitend. Sie brauchten bloß vier Tage, um den Radius des Hellas-Meeres zu durchqueren. Am vierten Nachmittag wurden die Mastsegel eingezogen. Der Rumpf tauchte wieder ins Wasser und schaukelte zwischen den Schaumkronen. Im Norden erschien über dem Horizont plötzlich Land. Es war der Rand des großen Beckens, wie eine Bergkette ohne einen einzigen Gipfel. Ein gewaltiges Bankett, das wie die innere Wand eines Kraters aussah, was es natürlich auch war; aber soviel größer als jeder visualisierte Krater der Vergangenheit, so daß man kaum die Krümmung des Kreises erkennen konnte. Gerade diese Größe fand Maya irgendwie beeindruckend schön. Und als sie sich dem Land näherten und nach Westen auf Odessa zu fuhren (ihre Annäherung an das Land war trotz der Kurskorrektur noch östlich der Stadt erfolgt), konnte sie, als sie die Falltaue gegen den Wind hochkletterte, den Strand erkennen, den das Meer gebildet hatte. Ein weiter Strand mit von Gras bewachsenen Dünen und hier und da durchtretenden Mündungen von Bächen. Eine hübsche Küste, und nahe dem Randgebiet von Odessa gelegen. Also ein Teil der Schönheit Odessas, ein Teil der Stadt.
Im Westen erhoben sich nun die gezackten Gipfel der Hellespontus Montes über die Wellen, fern und klein, ganz anders im Charakter als der glatte Anstieg im Norden. Sie mußten also dem Ziel nahe sein. Maya kletterte an den Tauen noch höher. Und da war es nun, auf dem nördlichen Hang. Die obersten Reihen von Parks und Gebäuden, alles grün und weiß, türkis und terrakotta. Und dann der große Bogen der Stadtmitte, der wie ein riesiges Amphitheater auf die Bühne des Hafens hinabschaute, der über dem Horizont auftauchte. Zuerst der Leuchtturm, dann die Statue von Arkadij, dann der Wellenbrecher und die tausend Masten des Hafens und das Gewirr von Dächern und Bäumen hinter dem fleckigen Beton der Kaimauer. Odessa.
Sie eilte die Taue hinunter fast wie ein Mitglied der Mannschaft, drückte ein paar von denen an sich und dann Michel. Sie merkte, wie sie grinste und der Wind über sie hin strich. Sie kamen in den Hafen, und die Segel falteten sich in ihre Masten wie Schnecken, die man berührt. Sie tuckerten in einen Landeplatz, gingen eine Gangway hinunter und das Dock entlang, hinauf durch das Hafenviertel und in den Park der Corniche. Und da waren sie nun. Die blaue Straßenbahn bimmelte noch auf der Straße hinter dem Park.
Maya und Michel gingen Hand in Hand die Corniche entlang und betrachteten die Speisenverkäufer und kleinen Straßencafes. Alle Namen wirkten neu, nicht einer war mehr derselbe; aber das war so mit Restaurants. Sie sahen alle ziemlich so aus wie zuvor, und die sich terrassenförmig hinter der Meeresfront erhebende Stadt war noch genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte. »Hier ist das Odeon, dort der Sinter... «
»Das ist, wo ich für Deep Waters gearbeitet habe. Ich möchte wissen, was sie jetzt alles machen.«
»Ich denke, die Aufrechterhaltung des Meeresniveaus hält eine ganze Menge von ihnen beschäftigt. Es gibt immer etwas mit dem Wasser zu tun.«
»Stimmt.«
Und dann kamen sie zu dem alten Praxis-Gebäude. Seine Wände waren jetzt größtenteils von Efeu bedeckt, der weiße Stuck verfärbt und die blauen Jalousien verblaßt. Das hatte einiges an Renovierung nötig, wie Michel bemerkte; aber Maya gefiel es so. Es war alt. Da auf dem dritten Stockwerk erkannte sie ihr altes Küchenfenster und den Balkon und daneben den von Spencer. Spencer selbst war wohl zu Hause.