Und sie gingen durch das Tor und begrüßten den neuen Pförtner. Und Spencer war wirklich irgendwie zu Hause. Er war an diesem Nachmittag gestorben.
Das hätte nicht so viel ausmachen sollen. Maya hatte Spencer Jackson seit Jahren nicht gesehen, und auch als er nebenan wohnte, hatte sie ihn nicht näher kennengelernt. Das hatte niemand. Spencer gehörte zu denen der Ersten Hundert, die zu verstehen am schwierigsten war, was viel zu sagen hatte. Ein Einzelgänger, der sein eigenes Leben führte. Er hatte als Teil der Oberflächenwelt unter einer angenommenen Identität als Spion gelebt, der fast zwanzig Jahre lang für die Gestapo in Kasei Vallis gearbeitet hatte, bis zu der Nacht, da die Stadt in die Luft gejagt und sowohl Sax als auch Spencer gerettet wurden. Zwanzig Jahre als jemand anders, mit einer falschen Vergangenheit, und niemandem, mit dem er sprechen konnte. Was konnte da aus jemanden werden? Aber Spencer hatte immer zurückgezogen gelebt, privat und selbstgenügsam. Darum hatte es ihm vielleicht nicht viel ausgemacht. Während ihrer Jahre in Odessa schien er in Ordnung zu sein. Er war natürlich stets bei Michel in Behandlung und gelegentlich ein sehr starker Trinker, aber angenehm als Nachbar und ein guter Freund, ruhig, solide und auf seine Weise verläßlich. Und er hatte bestimmt weiter gearbeitet, seine Produktion mit den bogdanovistischen Designern hatte nie nachgelassen, weder während seines Doppellebens noch danach. Ein großer Entwurfskünstler. Und seine Federzeichnungen waren schön. Aber was mußten zwanzig Jahre des Doppellebens jemanden antun? Vielleicht waren alle seine Identitäten angenommen gewesen. Maya hatte nie darüber nachgedacht. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Und jetzt, als sie Spencers Sachen in seinem leeren Apartment packte, wunderte sie sich, daß sie nie zuvor wenigstens versucht hatte zu erfahren, wie Spencer es geschafft hatte, so zu leben, daß er bei niemandem Argwohn erregte. Das war eine sehr merkwürdige Leistung. Weinend sagte sie zu Micheclass="underline" »Man muß sich über jeden wundern!«
In den nächsten Tagen kamen erstaunlich viele Gäste zu seiner Trauerfeier. Sax, Nadia, Mikhail, Zeyk und Nazik, Roald, Cojote, Mary, Ursula, Marina und Vlad, Jürgen und Sibilla, Steve und Marion, George und Edvard, Samantha — es war wie eine Zusammenkunft der restlichen Hundert und befreundeter Issei. Und Maya blickte rundum in alle die vertrauten alten Gesichter und machte sich traurigen Herzens klar, daß dieses Zusammentreffen wohl für lange Zeit das letzte sein würde. Von der ganzen Welt kamen immer weniger zusammen, bis eines Tages einer von ihnen einen Anruf bekommen und erkennen würde, daß sie die letzten waren, die es noch gab. Ein schreckliches Schicksal. Aber nicht eines, das Maya zu erleiden gedachte. Sie würde sicher vorher sterben. Der schnelle Verfall würde sie ereilen oder sonst etwas. Sie würde sich, wenn es sein mußte, vor einen Omnibus werfen. Alles, nur um einem solchen Schicksal zu entgehen. Na ja — nicht gerade alles. Vor einen Bus zu springen, wäre zu feige und zu mutig auf einmal. Sie erwartete sicher, daß sie sterben würde, ehe es zu so etwas käme. Ah, nur keine Angst. Man konnte darauf vertrauen, daß der Tod erscheinen würde. Ohne Zweifel, noch ehe sie es wünschte. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, der oder die letzte Überlebende der Ersten Hundert zu sein. Neue Freunde, ein neues Leben — war das nicht, wonach sie jetzt suchte? So daß diese traurigen alten Gesichter für sie nur ein Hindernis wären.
Sie hielt grimmig bei dem kurzen Gedenkgottesdienst und den schnellen Lobpreisungen durch. Die Sprecher schienen nicht genau zu wissen, was sie sagen sollten. Von Da Vinci war eine ganze Anzahl von Ingenieuren gekommen, Spencers Kollegen aus seinen Jahren als Designer. Seltsam, daß so viele Leute ihn gern gehabt hatten, daß auch sie selbst ihn gemocht hatte. Merkwürdig, daß ein so versteckt lebender Mensch eine solche Reaktion bewirken konnte. Vielleicht hatten sie alle etwas in seine Unbeschriebenheit projiziert, sich ihren eigenen Spencer gemacht und als Teil ihrer selbst gelobt. Das taten sowieso alle. So war das Leben.
Aber jetzt war er von ihnen gegangen. Sie schlenderten zum Hafen hinunter, und die Ingenieure ließen einen Heliumballon los. Als er hundert Meter Höhe erreicht hatte, rieselte Spencers Asche langsam heraus. Ein Teil des Dunstes, des Himmelsblaus, des abendlichen Messingschimmers.
In den folgenden Tagen zerstreute sich die Menge, und Maya unternahm Spaziergänge durch Odessa, schnupperte in Läden für Gebrauchtmöbel und saß an der Corniche auf den Bänken, um die Sonne über das Wasser hüpfen zu sehen. Es war herrlich, wieder in Odessa zu sein; aber sie fühlte den Schauer von Spencers Tod viel stärker, als sie erwartet hätte. Er warf eine dunkle Wolke selbst über die Schönheit dieser wundervollen Stadt. Er erinnerte sie daran, daß sie, indem sie hierher zurückgekehrt und in das alte Haus eingezogen waren, das Unmögliche versuchten. Sie wollten wieder in die Vergangenheit eintauchen und das Fortschreiten der Zeit leugnen. Hoffnungslos. Alles ging vorbei. Alles, was sie taten, taten sie das letzte Mal und würden es nie wieder tun. Gewohnheiten waren solche Lügen, die einen in die Stimmung einlullten, daß man glaubte, es müßte etwas Bleibendes geben, aber in Wirklichkeit war nichts von Dauer. Dies war das letzte Mal, daß sie je auf dieser Bank sitzen würde. Wenn sie morgen zur Corniche ging und sich auf die gleiche Bank setzte, wäre es wiederum das letzte Mal, und es würde nichts Bleibendes daran sein. Das letzte Mal nach dem letzten Mal — so würde es immer und immer weitergehen. Immer ein letzter Moment nach dem letzten. Endgültigkeit reihte sich an Endgültigkeit in nahtlos endloser Folge. Sie konnte das nicht richtig fassen. Worte konnten es nicht ausdrücken, Ideen konnten es nicht erfassen. Aber sie fühlte es wie die Kante einer Wellenfront, die immer nach außen drängt, oder wie ein beständiger Wind in ihrem Geist, der Dinge so rasch dahin jagt, daß man es sich kaum vorstellen und nur schwer nachempfinden kann. Nachts im Bett dachte sie immer wieder, dies wäre für diese Nacht das letzte Mal, und sie drückte Michel fest an sich, als könnte sie dem Geschehen Einhalt gebieten, wenn sie nur kräftig genug drückte. Selbst Michel, selbst die kleine Welt der Zweisamkeit, die sie sich geschaffen hatten... »O Michel«, sagte sie ängstlich, »es geht so schnell.«
Er nickte mit gespitzten Lippen. Er versuchte nicht mehr länger, sie zu therapieren und zu allem immer das fröhlichste Gesicht zu machen. Er behandelte sie jetzt auf gleicher Ebene und ihre Launen als eine Art von Wahrheit, die nur ihr zustand. Manchmal fehlte ihr der Trost.
Aber Michel lieferte keinen Widerspruch und keine hoffnungsvolle Bemerkung. Spencer war sein Freund gewesen. Früher, in den Odessa-Jahren, wenn er und Maya sich gestritten hatten, war er manchmal zum Schlafen zu Spencer gegangen und sicher auch, um bis in die späte Nacht über Gläsern voll Wiskey zu plaudern. Wenn überhaupt jemand etwas aus Spencer herausholen konnte, war das Michel gewesen. Jetzt saß er auf dem Bett und blickte aus dem Fenster, ein müder alter Mann. Sie zankten sich nie mehr. Maya hatte den Eindruck, daß es ihr irgendwie gut tun könnte, wenn sie es täten. Die Spinnweben beseitigen, sich wieder aufladen. Aber Michel reagierte auf keine Provokation. Er selbst hatte keine Lust zu streiten und gab ihr auch keine Behandlung mehr. Das wollte er auch um ihretwillen nicht tun. Maya dachte, wenn jemand hereinkäme, würde er ein Paar sehen, das so alt und verbraucht war, daß sie sich nicht einmal mehr bemühten, miteinander zu sprechen. Bloß beisammen saßen, jeder mit seinen Gedanken allein.
»Nun«, sagte Michel nach sehr langer Zeit, »aber hier sind wir.«
Maya lächelte. Diese endlich geäußerte hoffnungsvolle Bemerkung bedeutete eine große Anstrengung. Er war ein braver Mann. Und zitierte die ersten auf dem Mars gefallenen Worte. John hatte eine drollige Art gehabt, sich auszudrücken. »Hier sind wir.« Das war eigentlich blöde. Und dennoch hätte er etwas mehr gemeint haben können als die für John typische Aussage. War es mehr gewesen als die gedankenlose Äußerung, die jeder machen könnte? »Hier sind wir«, wiederholte sie und wog den Satz auf der Zunge. Auf dem Mars. Erst eine Idee, dann ein Ort. Und jetzt waren sie in einem fast leeren Schlafzimmer, nicht dem, worin sie vorher gewohnt hatten, sondern in einem Eckzimmer mit Blick aus großen Fenstern nach Süden und Westen. Die große Kurve von Meer und Gebirge, die Odessa hieß. Nirgendwo sonst. Die alten verputzten Wände waren fleckig, die hölzernen Fußböden dunkel und blank gescheuert. Es hatte viele Lebensjahre erfordert, die Patina zu erzeugen. Wohnzimmer durch die eine Tür, Gang zur Küche durch die andere. Sie hatten eine Matratze auf einem Gestell, eine Couch, ein paar Stühle und einige noch nicht geöffnete Kisten — ihre Sachen von früher, aus dem Speicher geholt. Seltsam, wie ein paar Möbelstücke sich so herumtreiben konnten. Sie fühlte sich bei ihrem Anblick wohler. Sie würden auspacken, die Sachen aufstellen und benutzen, bis sie unsichtbar würden. Gewohnheit würde wieder die nackte Wirklichkeit der Welt verhüllen. Gott sei Dank dafür!