Er erklärte seinen Freunden: »Das ist Maya.«
»Toitovna? Die in der Oper?«
»Ja, aber real.«
»Real«, äffte Maya ihm nach und scheuchte sie fort. »Ihr wißt ja gar nicht, was real ist.« Und sie fühlte das, was sie sagte.
Und Freunde kamen auf eine oder zwei Wochen zu Besuch in die Stadt. Und als es dann im Sommer immer wärmer wurde, verbrachten sie einen Dezember in einer Hütte hinter den Dünen. Sie schwammen, segelten, surften und lagen unter einem Sonnenschirm am Strand, lasen und schliefen bis zum Perihel. Dann ging es wieder nach Odessa hinein zu den vertrauten Annehmlichkeiten ihrer Wohnung und der Stadt, im rötlichen Licht des Südherbstes, welcher die längste Saison des Marsjahres war und auch die Annäherung an das Aphel darstellte. Es wurde von Tag zu Tag düsterer, bis bei Ls 70 das Aphel kam. Zwischen diesem und der Wintersonnenwende bei Ls 90 fand das Eisfestival statt. Sie fuhren auf dem weißen Eis der See direkt unter der Corniche Schlittschuh und blickten zu der Küstenfront der Stadt auf, die ganz mit Schnee verweht war. Weiß unter schwarzen Wolken. Oder sie fuhren mit Eisbooten so weit hinaus, daß die Stadt nur noch eine Unterbrechung in der weißen Kurve des großen Randes war. Oder sie speisten in trüben, lauten Restaurants und warteten auf den Beginn der Musik, während feuchter Schnee draußen auf die Straße herabrieselte. Sie gingen in ein langweiliges kleines Theater mit seinem erwartungsvollen Gelächter. Im Frühling aßen sie zum ersten Mal draußen auf dem Balkon mit Pullovern gegen die Kühle, betrachteten die jungen Knospen auf den Spitzen der Baumzweige mit einem Grün ohnegleichen, wie kleine Tränentropfen von Viriditas. Und so verging die Zeit, tief in den Falten von Gewohnheit und deren Rhythmen, glücklich in dem dejä vu, das sie sich bereiteten.
Dann schaltete Maya eines Morgens ihren Bildschirm ein, verfolgte die Nachrichten und stellte fest, daß man eine große Siedlung der Chinesen entdeckt hatte, die sich bereits in Huo-Hsing-Vallis (als ob der Name ein Eindringen rechtfertigte) etabliert hatte. Eine überraschte globale Polizei hatte sie zum Verlassen aufgefordert, aber sie trotzten gelassen diesem Befehl. Und die chinesische Regierung warnte den Mars, daß jede Einmischung bei der Siedlung als ein Angriff auf chinesische Bürger angesehen und entsprechende Reaktionen nach sich ziehen würde. Maya rief: »Was? Nein!«
Sie rief jeden in Mangala an, den sie kannte. In diesen Tagen gab es da nicht viele Personen von Bedeutung. Sie fragte sie, was sie wüßten und bat um Mitteilung, warum die Siedler nicht wieder zum Aufzug eskortiert und nach Hause geschickt würden und so weiter. »Das ist einfach nicht akzeptabel. Ihr müßt das sofort unterbinden!«
Aber es gab schon seit einiger Zeit illegale Einreisen, die nur etwas weniger kraß gewesen waren, wie sie selbst gelegentlich in Nachrichtenmeldungen gesehen hatte. Immigranten wurden in billigen Landevehikeln abgesetzt unter Umgehung des Aufzugs und der Behörden in Sheffield. Landungen mit Raketen und Fallschirmen wie in den alten Zeiten; und man konnte wenig dagegen tun, ohne einen interplanetaren Zwischenfall zu provozieren. Hinter den Kulissen arbeiteten die Leute hart daran. Die UN stärkten China den Rücken. Darum war es schwierig. Es wurde Fortschritt erzielt, langsam aber sicher. Sie sollte sich keine Sorgen machen.
Sie stellte den Schirm ab. Sie hatte früher einmal unter der Illusion gelitten, daß sich die ganze Welt verändern würde, sofern sie sich nur selbst hart genug bemühte. Jetzt wußte sie es besser.
Dennoch war es schwer, das zuzugeben. »Das reicht, um einen zum Roten werden zu lassen«, sagte sie Michel, als sie zur Arbeit ging. Sie warnte ihn: »Es reicht, um uns gegen Mangala aufzubringen.«
Aber nach einer Woche war die Krise vorbei. Es wurde eine Übereinkunft erzielt. Die Siedlung durfte bleiben, und die Chinesen versprachen, im folgenden Jahr eine entsprechend kleinere Anzahl legaler Einwanderer zu schicken. Sehr unbefriedigend, aber immerhin. Das Leben ging unter diesem neuen Schatten weiter.
Als sie an einem Nachmittag im Spätfrühling von der Arbeit nach Hause ging, erregte eine Reihe von Rosensträuchern hinter der Corniche ihre Aufmerksamkeit. Sie ging hinüber, um sie sich näher anzusehen. Hinter den Sträuchern gingen Leute auf der Harmakhis-Avenue an den Cafes vorbei, die meisten in Eile. Die Büsche hatten eine Menge neuer Blätter, deren Braun eine Mischung aus Grün und Rot war. Die frisch erblühten Rosen hatten eine rein dunkelrote Farbe, ihre leuchtenden samtigen Blütenblätter strahlten im nachmittäglichen Licht. Lincoln, besagte die Etikette auf dem Stamm. Eine Rosenart und zugleich der größte Amerikaner, ein Mann, der eine Art Kombination von John und Frank gebildet hatte, so wie Maya ihn verstand. Einer der Truppe hatte ein großes Stück über ihn geschrieben, finster und beunruhigend; der Held wurde sinnlos ermordet, ein richtiges Rührstück. Sie brauchten in diesen Tagen einen Lincoln. Das Rot der Rosen leuchtete hell. Plötzlich konnte sie nicht mehr sehen. Für einen Moment war sie völlig geblendet, als hätte sie direkt in die Sonne geblickt.
Danach sah sie seltsame Dinge.
Gestalten, Farben — soviel war gerade noch wahrnehmbar, aber was die waren — wer sie war — bemühte sie sich wortlos zu erkennen...
Dann kehrte mit einem Ruck alles wieder. Rose, Odessa — alles so, als wäre es nie fort gewesen. Aber sie taumelte und hatte Mühe Balance halten. Sie hielt sich im Zaun. »O nein, mein Gott!« Sie schluckte, ihre Kehle war trocken, sehr trocken. Ein physiologischer Effekt. Der hatte einige Zeit gedauert. Sie zischte, und unterdrückte einen Schrei. Stand starr auf dem Kiesweg, die braungrüne mit lebhaftem Rot gefleckte Hecke vor sich. Sie sollte sich für ihr nächstes jakobitisches Stück an diesen Farbeffekt erinnern.
Sie hatte immer gewußt, daß das passieren würde. Gewohnheit — sie war so trügerisch. In ihr tickte eine Bombe. In den alten Tagen hatte es etwa drei Milliarden Mal getickt. Jetzt hatten sie es auf zehn oder mehr Milliarden gebracht. Es tickte aber immer weiter. Sie hatte gehört, daß man eine Uhr kaufen könne, die während einer bestimmten Anzahl von Stunden rückwärts lief, vermutlich jenen, die noch übrig waren, die man noch fünfhundert Jahre zu leben hatte. Welche Lebensdauer man sich auch immer erwählte. Man konnte eine Million Jahre wählen und sich entspannen. Man konnte irgendeine wählen und etwas genauer auf den Moment achten. Oder man tauchte in seine Gewohnheiten und dachte nie darüber nach, wie es alle taten, die sie kannte.
Sie hätte das sehr gern getan. Früher einmal hatte sie so gelebt und würde es wieder tun. Aber jetzt in diesem Augenblick war etwas geschehen, und sie war wieder im Interregnum, der leeren Zeit zwischen zweierlei Gewohnheiten, und wartete auf die nächste Häutung. Nein, nein! Warum? Sie wollte eine solche Zeit nicht erleben. Das war zu hart; sie konnte kaum das bloße Gefühl verstreichender Zeit ertragen, das sie während dieser Perioden befiel. Das Gefühl, alles wäre zum letzten Mal. Sie haßte dieses Gefühl über alle Maßen. Und diesmal hatte sie ihre Gewohnheiten überhaupt nicht geändert! Nichts war anders. Es hatte sie aus heiterem Himmel getroffen. Vielleicht war es einfach zu lange her seit dem letzten Mal. Vielleicht würde es jetzt immer nach Belieben losgehen, willkürlich, vielleicht häufig.
Sie ging nachdenklich nach Hause (ich weiß, wo meine Heimat ist) und versuchte, Michel zu erzählen, was geschehen war. Sie schilderte und seufzte und schilderte weiter und gab dann auf. »Wir tun Dinge nur einmal! Verstehst du?«
Er war sehr besorgt, obwohl er sich bemühte, das nicht zu zeigen. Ausfälle oder nicht, sie konnte unschwer die Launen von Monsieur Duval erkennen. Er sagte, ihr kleines jamais vu wäre vielleicht ein kleiner epileptischer Anfall oder ein winziger Schlaganfall gewesen; aber er konnte nicht sicher sein, und sogar Tests würden ihnen nichts verraten. Jamais vu war nur wenig verstanden, eine Variante von dejä vu, praktisch ins Gegenteil umgekehrt. »Es scheint mir eine zeitweilige Störung in den Wellenmustern des Gehirns zu sein. Sie gehen von Alphawellen zu Deltawellen in einer kleinen Delle über. Wenn du einen Monitor tragen würdest, könnten wir das nächstemal herausbekommen, wenn es geschieht, falls es dazu kommt. Es ist so ähnlich wie ein Wach-Schlaf, in dem ein Großteil der Wahrnehmung ausgeschaltet ist.«