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»Bleiben jemals Leute darin hängen?«

»Nein. Ich kenne keinen derartigen Fall. Es ist selten und immer nur zeitweilig.«

»Bisher.«

Er bemühte sich, so zu tun, als wäre diese Furcht unbegründet.

Maya wußte es besser und ging in die Küche, um eine Mahlzeit vorzubereiten. Mit den Töpfen klappern, den Kühlschrank öffnen, Gemüse herausnehmen, zerhacken und in die Pfanne tun. Hack hack hack hack. Hör auf zu weinen, hör auf! Selbst dies ist schon zehntausendmal passiert. Die Katastrophen waren unvermeidlich. Die Gewohnheit des Hungers. In der Küche bemühte sie sich, alles zu ignorieren und ein Essen herzurichten. Wie oft schon? Na ja, da sind wir.

Danach vermied sie die Reihe der Rosenbüsche aus Furcht vor einem weiteren Vorfall. Aber man konnte die Rosen an der Corniche von überall her sehen, bis hin zur Küstenmauer. Und sie standen fast immer in Blüte. In dieser Hinsicht waren Rosen erstaunlich. Und einmal, als das gleiche Licht des Nachmittags sich über den Hellespont ergoß und nach Westen hin allem eine gewisse Unscharfe verlieh und zu matten Pastelltönen verdunkelte, fiel ihr Auge auf die nadelstichgroßen roten Punkte der Rosen in der Hecke. Sie ging auf der Küstenmauer, sah auf der einen Seite das Muster der Gischt auf dem schwarzen Wasser und auf der anderen Seite die Rosen und das aufragende Odessa. Sie blieb stehen, durch irgend etwas in dem doppelten Anblick aufgehalten, durch eine Erkenntnis, fast an der Grenze einer Offenbarung. Sie fühlte, daß eine große Wahrheit an ihr zerrte. Knapp außerhalb von ihr oder im Innern ihres Körpers — in ihrem Schädel, aber außerhalb ihrer Gedanken. Es drückte auf die das Gehirn umschließende harte Haut. Alles war erklärt und endgültig deutlich geworden...

Aber die Offenbarung schaffte es nicht durch die Schranke. Nur ein Gefühl, neblig und riesengroß. Dann verging der Druck auf ihren Geist, und der Nachmittag nahm seine gewöhnliche zinnähnliche Farbe an. Sie ging heim mit einem Gefühl des Ausgefülltseins. Ozeane von Wolken in der Brust, bereit zu bersten von etwas wie Frustration oder einer Art ängstlicher Freude. Sie erzählte Michel wieder, was geschehen war, und er nickte. Auch dafür hatte er einen Namen:

»Presque vu.« Beinahe gesehen. Er sagte: »Davon habe ich eine Menge.« Mit seiner charakeristischen Miene geheimer Sorge.

Aber alle diese symptomatischen Kategorien schienen für Maya nur das zu kaschieren, was wirklich in ihr vorging. Manchmal war sie sehr verwirrt. Manchmal glaubte sie Dinge zu verstehen, die es gar nicht gab. Manchmal vergaß sie Dinge für immer. Und manchmal war sie sehr verstört. Und das waren die Dinge, die Michel mit seinen Namen und Kombinationen zu erklären versuchte.

Fast gesehen. Fast verstanden. Und dann zurück in die Welt von Licht und Zeit.

Und da gab es nichts anderes als weiterzumachen. Also machte sie weiter. Es vergingen genug Tage, und sie konnte vergessen, was für ein Gefühl es gewesen war, wie ängstlich sie gewesen war oder wie nahe der Freude. Es war seltsam, daß man so leicht vergessen konnte. Einfach leben in la vie quotidienne, und achtgeben auf das alltägliche Leben mit seiner Arbeit, den Freunden und Besuchern.

Unter den Besuchern waren auch Charlotte und Ariadne, die von Mangala kamen, um sich mit Maya über die schlechter werdenden Beziehungen zur Erde zu beraten. Sie gingen zum Frühstück an die Corniche und sprachen über Belange von Dorsa Brevia. Die Leute von Dorsa Brevia waren trotz der Tatsache, daß die Minoer die Koalition des Freien Mars verlassen hatten, weil ihnen unter anderem deren Versuch nicht zusagte, die Siedlungen auf den äußeren Satelliten zu dominieren, zu der Ansicht gekommen, daß Jackie hinsichtlich der Einwanderung recht hatte, zumindest in gewissem Umfang.

»Es ist nicht so, daß der Mars sich seiner Aufnahmefähigkeit für Menschen auch nur ansatzweise nähern würde«, sagte Charlotte. »Da irren sie sich. Wir könnten den Gürtel enger schnallen und die Städte dichter gestalten. Und in diesen neuen schwimmenden Städte auf dem Nordmeer ließen sich eine Menge Leute unterbringen. Sie sind ein Zeichen dafür, wie viele mehr hier leben könnten. Sie haben praktisch keinen Einfluß, außer in gewissem Sinne auf Hafenstädte. Aber es gibt Platz für noch mehr Hafenstädte, zumindest am Nordmeer.«

»Für viel mehr«, sagte Maya. Trotz des Eindringens von Terranern liebte sie es nicht, immigrantenfeindliches Gerede in jeglicher Form zu hören. Aber Charlotte war wieder im Exekutivrat und hatte seit Jahren eine enge Beziehung zur Erde gepflegt. Darum fiel es ihr schwer zu sagen:

»Es geht nicht um die Zahlen. Es kommt darauf an, wer sie sind und was sie glauben. Die Schwierigkeiten mit der Assimilation werden wirklich ernst.«

Maya nickte. »Ich habe auf dem Schirm darüber gelesen.«

»Ja. Wir haben auf jedem uns bekannten Wege versucht, Neuankömmlinge zu integrieren; aber sie ballen sich natürlich zusammen, und man kann sie nicht einfach aufbrechen.«

»Nein.«

»Aber es tauchen so viele Probleme auf. Es hat Fälle von Sharia, dem einfach ausgeübten islamischen Recht gegeben, Inzest, streitsüchige ethnische Banden, Angriffe seitens der Immigranten auf Eingeborene, gewöhnlich Männer gegen Frauen, aber nicht immer. Und Banden junger Eingeborener üben Vergeltung, belästigen die neuen Siedlungen und so weiter. Es herrscht große Unruhe. Und das bei einer — wenigstens dem Gesetz nach — reduzierten Einwanderung. Aber die UN sind deswegen böse auf uns und wollen noch mehr schicken. Und dann werden wir eine Art menschlicher Müllplatz werden, und alle unsere Arbeit wird zuschanden kommen.«

»Hmm.« Maya schüttelte den Kopf. Natürlich kannte sie das Problem. Aber es war ein deprimierender Gedanke, daß derartige Verbündete sich abwenden und der anderen Seite anschließen könnten, bloß weil die Situation schwierig wurde. »Aber bei allem, was ihr tut, müßt ihr die UN mit einberechnen. Wenn ihr die Immigration verbietet und sie trotzdem einwandern und die UN das unterstützen, dann wird unsere Arbeit noch schneller vertan sein. Das ist es doch, was mit diesen Übergriffen geschieht, nicht wahr? Es wäre besser, Einwanderung zu gestatten, aber auf dem niedrigsten Niveau zu halten, das die UN zufriedenstellt, und mit den Immigranten umzugehen, wenn sie hier sind.«

Die beiden Frauen nickten mißmutig. Sie aßen eine Weile schweigend und schauten auf das frische Blau der morgendlichen See. »Die Exmetas sind auch ein Problem«, sagte Ariadne. »Die drängen noch mehr hier herein als die UN.«

»Natürlich.« Für Maya war es keine Überraschung, daß die alten Metanationalen auf der Erde immer noch eine solche Macht hatten. Natürlich hatten sie alle das Modell der Praxis zum Überleben nachgeahmt und waren deshalb mit diesem fundamentalen Wandel in ihrer Natur nicht mehr wie totalitäre Lehnsherren, die sich anschickten, die Welt zu erobern. Sie waren aber immer noch groß und stark, umfaßten eine Menge Leute und besaßen viel angehäuftes Kapital. Und sie wollten immer noch Geschäfte machen, um den Lebensunterhalt ihrer Mitglieder zu bestreiten. Ihre Strategien dafür waren manchmal bewundernswert und manchmal nicht. Man konnte Dinge produzieren, die die Leute wirklich benötigten. Auf eine neue und bessere Art. Oder man konnte krumme Dinge drehen und versuchen, Vorteile herauszupressen oder falsche Bedürfnisse zu wecken. Die meisten Exmetas verfolgten natürlich eine gemischte Strategie und versuchten, durch Diversifikation Stabilität zu erzielen, wie in ihren alten Tagen des Investments. Aber dadurch wurde die Bekämpfung der schlechten Strategien irgendwie noch schlechter durchzuführen, weil jeder sie in gewissem Umfang anwandte. Und jetzt verfolgten viele Exmetas sehr aktive Marsprogramme. Sie arbeiteten für die Regierungen der Erde und transportierten Menschen von der Erde herauf, erbauten Städte und gründeten Farmen, Bergwerke, Produktionsstätten und Handelsplätze. Manchmal schien es, als ob die Emigration von der Erde zum Mars erst aufhören würde, wenn ein exaktes Gleichgewicht der Überfüllung erreicht wäre. Und das würde angesichts der hypermalthusianischen Lage auf der Erde für den Mars eine Katastrophe bedeuten.