»Ja, ja«, sagte Maya ungeduldig. »Trotzdem müssen wir versuchen zu helfen und müssen uns im Bereich des Akzeptablen gegenüber der Erde halten. Sonst wird es Krieg geben.«
Also gingen Charlotte und Ariadne fort. Beide sahen so besorgt aus, wie Maya sich fühlte. Und plötzlich fiel Maya ein, daß die beiden, wenn sie zu ihr um Hilfe kamen, wirklich in großen Schwierigkeiten stecken mußten.
Sie nahm ihre direkte politische Arbeit wieder auf, obwohl sie sich bemühte, die in Grenzen zu halten. Sie reiste nur selten von Odessa fort, außer in Angelegenheiten der AWT. Sie arbeitete weiter mit der Theatergruppe, die jetzt auf jeden Fall das wahre Herz ihrer politischen Arbeit geworden war. Aber sie ging wieder zu Versammlungen und trat manchmal vor die Leute und redete. Der Wertewandel nahm viele Formen an. Eines Abends ließ sie sich sogar hinreißen und willigte ein, für Odessas Sitz im globalen Senat als Mitglied der Terranischen Gesellschaft von Freunden zu kandidieren, falls sich kein günstigerer Kandidat finden sollte. Später, als sie Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, bat sie, zuerst nach jemand anderem zu suchen; und am Ende entschloß man sich für einen der jungen Stückeschreiber der Gruppe, der in der Stadtverwaltung von Odessa arbeitete. Eine gute Wahl. Damit ging der Kelch an ihr vorüber und sie fuhr fort, die Quäker der Erde zu unterstützen, wenn auch immer weniger aktiv, denn sie fühlte sich dabei immer unbehaglicher, weil man die Aufnahmekapazität eines Planeten nicht überbeanspruchen konnte, ohne eine Katastrophe heraufzubeschwören. Das hatte die Geschichte der Erde seit dem neunzehnten Jahrhundert bewiesen. Man mußte vorsichtig sein. Es war ein Drahtseilakt: Man durfte nicht zu viele Leute hereinlassen, aber es war besser, mit einer begrenzten Periode der Überbevölkerung fertig zu werden, als es mit einer regelrechten Invasion aufnehmen zu müssen. Und das war ein Punkt, den sie in allen Versammlungen betonte.
Und während dieser ganzen Zeit befand Nirgal sich draußen in der Wildnis, führte ein Nomadenleben und sprach zu den Wilden und Bauern und hatte, wie sie hoffte, seinen gewohnten Einfluß auf die Weltanschauung der Marsbevölkerung, die Michel sein kollektives Unterbewußtsein nannte. Maya setzte einen großen Teil ihrer Hoffnungen auf Nirgal. Und sie tat ihr Bestes für den anderen Zug ihres Lebens, die Beschäftigung mit der Geschichte. Das war in mancher Hinsicht der allerwichtigste Faden, da er sich durch ihr Leben gezogen hatte und es zu einer großen Schleife bis zurück zu den Vorahnungen in ihrem früheren Leben in Odessa zusammengerafft hatte.
So war das schon eine böse Art von dejä vu. Und dann kamen die realen dejä vus zurück und sogen wie immer das Leben aus allen Dingen. Oh, ein einzelnes Aufblitzen der Erregung war natürlich nur ein Ruck, eine schreckliche Erinnerung, die wieder verschwand. Aber ein ganzer Tag war eine Qual und eine Woche die wahre Hölle. Michel sagte, die aktuellen medizinischen Zeitschriften nannten es den stereotemporalen Zustand. Andere bezeichneten ihn als die stets bereite Sensation. Das war offenbar für einen gewissen Prozentsatz der Alten ein Problem. Nichts konnte innerhalb Mayas Emotionen schlimmer sein. An solchen Tagen erwachte sie, und jeder Moment des Tages wurde zu einer exakten Wiederholung eines früheren identischen Tages. So kam es ihr vor wie Nietzsches Vorstellung von der ewigen Wiederkehr, der endlosen Wiederholung aller möglichen raumzeitlichen Kontinua, die für sie als erlebte Erfahrung transparent geworden war. Schrecklich, schrecklich! Und dennoch konnte sie nichts tun, als sich wie ein Zombie durch die stets bereitstehenden voraussagbaren Tage zu quälen, bis der Fluch sich hob — manchmal in einem raschen Ruck zurück in den nicht stereotemporalen Zustand, wo eine doppelte Vision ihre Schärfe wiedergewann und den Dingen ihre Tiefe wiedergab. Zurück zum Realen mit seinem herrlichen Gefühl von Neuheit, Kontingenz und blindem Werden, wo sie frei war, jeden Moment mit Überraschung zu erfahren und das gewöhnliche Auf und Ab ihrer emotinalen Sinuswelle zu erleben, eine Berg- und Talfahrt, die zwar unbequem, aber doch wenigstens Bewegung war.
»Ah, gut!« sagte Michel, als sie aus einem dieser Anfälle herauskam und sich wunderte, welche Drogen man ihr gegeben haben konnte, um das zu schaffen.
»Vielleicht könnte ich einfach auf die andere Seite vonpresque vu gehen«, sagte Maya mit matter Stimme. »Nicht dejä oder presque oderjamais, sondern bloß vu.«
»Eine Art Erleuchtung, Satori«, mutmaßte Michel. »Oder Epiphanie. Eine mystische Einheit mit dem Universum. Wie man mir sagte, ist das meist nur ein kurzlebiges Phänomen. Ein Spitzenerlebnis.«
»Mit Nachwirkungen?«
»Ja. Danach fühlt man sich allgemein besser. Aber — na ja — man sagt, es kommt gewöhnlich nur nach Gelingen einer gewissen... «
»Heiterkeit?«
»Nein, ja doch. Ruhe des Geistes, könnte man sagen.«
»Du meinst, das ist bei mir nicht der Fall.«
Das löste ein Grinsen aus. »Aber es könnte kultiviert werden. Ich meine, sich darauf vorzubereiten. Das ist es, was man im Zen-Buddhismus macht, wenn ich ihn recht verstehe.«
Also las sie einige Zen-Texte. Aber die machten ihr klar: Zen war nicht Information, sondern Verhalten. Wenn man sich richtig verhielt, konnte die mystische Klarheit herabsteigen. Oder auch nicht. Und wenn sie es tat, war es gewöhnlich ein flüchtiger Moment, eine Vision.
Maya war in ihren Gewohnheiten für eine solche Art von Veränderung in ihrem mentalen Verhalten zu sehr verhaftet. Sie hatte ihre Gedanken nicht so unter Kontrolle, daß sie sich auf eine Gipfelerfahrung hätte vorbereiten können. Sie lebte ihr Leben, und diese mentalen Zusammenbrüche setzten ihr zu. Das Nachdenken über die Vergangenheit war anscheinend mit daran schuld, daß sie auftraten. Darum konzentrierte sie sich auf die Gegenwart, so weit sie konnte. Das war schließlich Zen, und sie wurde darin recht gut. Es war seit Jahren ihre instinktive Überlebensstrategie gewesen. Aber ein Gipfelerlebnis... Manchmal sehnte sie sich danach; denn das, was man beinahe gesehen hatte, glaubte man schließlich wirklich gesehen zu haben. Ein presque vu würde auf sie herabsteigen, und die Welt würde jene Aura vager starker Bedeutung außerhalb ihrer Gedanken annehmen; und sie würde dastehen und drängen oder sich entspannen oder bloß versuchen zu folgen und es zu fassen — neugierig, furchtsam, hoffend. Und dann würde es verblassen und vergehen. Dennoch, eines Tages... Wenn es nur deutlich werden würde! Das könnte in der Zeit danach hilfreich sein. Und manchmal war sie so neugierig. Wie würde die Einsicht sein? Was für ein Verständnis mochte es sein, das in solchen Zeiten knapp außerhalb ihres Geistes harrte? Es fühlte sich zu real an, um bloß eine Illusion zu sein...
So nahm sie, obwohl sie erst gar nicht auf den Gedanken kam, daß es das war, was sie suchte, eine Einladung von Nirgal an, mit ihm das Olympus-Mons- Festival zu besuchen. Michel hielt das für eine großartige Idee. Einmal in jedem m-Jahr im nördlichen Frühling trafen sich Leute auf dem Gipfel von Olympus Mons nahe dem Krater Zp, um ein Fest innerhalb einer Kaskade halbmondförmiger Kuppeln, über Steinen und Kachelmosaiken zu feiern. Wie während der ersten Zusammenkunft dort, als man das Ende des Großen Sturmes feierte, als der Eis-Asteroid über den Himmel geflammt war und John von der kommenden Gesellschaft des Mars zu ihnen gesprochen hatte.