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Welche Gesellschaft, fragte sich Maya, als sie in einem Waggon den großen Vulkan hinauffuhren, hatte ihr Ziel erreicht, wenigstens zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten? Jetzt, hier, hier sind wir. Auf Olympus, bei Ls in jedem Jahr, zum Gedenken an Johns Versprechen und zur Feier dieser Errungenschaft. Bei weitem die größere Anzahl der Feiernden waren junge Eingeborene; aber es gab auch eine Menge neuer Einwanderer, die heraufgekommen waren, um das berühmte Festival kennenzulernen, und mit der Absicht, die ganze Woche lang eine Party zu feiern, meistens von ständigem Musizieren oder Tanzen oder beidem begleitet. Maya zog es vor zu tanzen, da sie immer noch kein anderes Instrument spielte als das Tamburin. Und sie verlor dort Michel und alle ihre anderen Freunde, Nadia und Sax, Marina, Ursula und Mary, Nirgal, Diane und alle übrigen, so daß sie mit Fremden tanzen und vergessen konnte. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf die vorbeiziehenden strahlenden Gesichter, jedes einzelne wie ein Pulsar von Bewußtsein, der rief: Ich lebe, ich lebe, ich lebe.

Ein großartiger Tanz, die ganze Nacht lang. Ein Zeichen, daß Assimilation möglich war. Die Areophanie wob ihren unsichtbaren Zauber über jeden, der auf den Planeten kam, so daß die schädliche Vergangenheit der Erde geschwächt und vergessen und die wahre Kultur des Mars zumindest in der kollektiven Schöpfung verwirklicht werden konnte. Schönheit. Aber kein Gipfelerlebnis. Dies war nicht der Ort für sie. Es war vielleicht zu sehr die tote Hand der Vergangenheit im Spiel. Die Dinge waren auf dem Gipfel von Olympus Mons zu sehr die gleichen geblieben. Der Himmel war noch immer schwarz und gestirnt und mit einem purpurnen Band um den Horizont... Rund um den gewaltigen Rand waren Herbergen errichtet worden, wie Marina sagte, zur Aufnahme von Pilgern, wenn sie um den Gipfel wanderten. Und andere Unterkünfte gab es unten in der Caldera für die Roten Kletterer, die ihre Existenz dort in der Welt sich überlappender konvexer Klippen fristeten. Seltsam, was die Leute so machten, dachte Maya, seltsam, welche Schicksale jetzt auf dem Mars realisiert wurden.

Aber nicht von ihr. Olympus Mons war zu hoch und daher zu sehr der Vergangenheit verhaftet. Es war nicht der Ort, an den sie ging, um ein Erlebnis jener Art zu haben, nach dem sie suchte.

Sie ergriff auf der Rückfahrt nach Odessa aber die Gelegenheit zu einem langen Gespräch mit Nirgal. Sie erzählte ihm von Charlotte und Ariadne und deren Sorgen; und er nickte und sprach von einigen seiner Abenteuer in der Wildnis zu ihr, von denen viele Fortschritt bei der Assimilation bekundeten. Er sagte voraus: »Wir werden am Ende gewinnen. Der Mars ist gerade jetzt das Schlachtfeld von Vergangenheit und Zukunft; und die Vergangenheit besitzt ihre Kraft, aber die Zukunft ist es, wohin wir alle gehen. In ihr steckt eine unerbittliche Macht, wie ein nach vorn ziehendes Vakuum. Das kann ich in diesen Tagen beinahe fühlen.« Und er sah glücklich aus.

Dann holten sie ihr Gepäck aus dem Stauraum über den Sitzen, und er küßte sie auf die Wange. Er war mager und hart und entglitt ihr. »Wir werden weiter daran arbeiten, nicht wahr? Ich werde dich und Michel in Odessa besuchen. Ich liebe dich.«

Natürlich fühlte sie sich dadurch besser. Kein Gipfelerlebnis, aber eine Bahnfahrt mit Nirgal, eine Chance mit diesem schwer erreichbaren Eingeborenen, ihrem überaus geliebten Sohn.

Aber nach der Rückkehr vom Berg war sie weiterhin das Opfer ihrer ›mentalen VorfalleA wie Michel sie nannte. Er wurde jedesmal besorgter, wenn sich einer ereignete. Maya merkte, daß sie ihn erschreckten, obwohl er das zu verbergen suchte. Und das war auch kein Wunder. Solche ›Vofälle‹ und andere ähnliche kamen bei vielen seiner älteren Patienten vor. Die gerontologischen Behandlungen halfen anscheinend nicht dagegen, daß sich die Erinnerungen der Menschen an ihre immer länger werdenden Vergangenheiten klammerten. Und als ihnen ihre Vergangenheiten von Jahr zu Jahr mehr entglitten und ihr Gedächtnis nachließ, traten die ›Vorfälle‹ immer häufiger auf, bis einige Leute sogar in Nervenkliniken überwiesen werden mußten.

Oder aber sie starben. Das Institut für Erste Siedler, mit dem Michel zusammenarbeitete, nahm jedes Jahr eine kleinere Gruppe von Personen auf. Auch Vlad starb in jenem Jahr. Danach zogen Marina und Ursula von Acheron nach Odessa. Nadia und Art waren schon nach West-Odessa übergesiedelt, nachdem ihre Tochter Nikki erwachsen geworden und in die Welt gezogen war. Sogar Sax Russell nahm sich ein Apartment in der Stadt, obwohl er immer noch den größten Teil des Jahres in Da Vinci verbrachte.

Für Maya waren diese Veränderungen sowohl gut als auch schlecht. Gut, weil sie all diese Leute liebte und es sich so ergab, als ob sie sich um sie scharten, was ihrer Eitelkeit wohltat. Und es war eine große Freude, ihre Gesichter zu sehen. So half sie zum Beispiel Marina, Ursula beizustehen, daß diese mit dem Verlust von Vlad fertig wurde. Es schien, als ob Ursula und Vlad irgendwie das echte Paar gewesen wären, obwohl Marina und Ursula... Nun, es gab keine Gewißheit über die drei Punkte einer menage ä trois, ganz gleich, wie sie auch zusammengesetzt war. Jedenfalls waren Marina und Ursula jetzt übrig geblieben, ein in seinem Kummer sehr enges Paar, sonst aber sehr wie die jungen eingeborenen gleichgeschlechtlichen Paare, die man in Odessa sah. Männer Arm in Arm auf der Straße, und Frauen Hand in Hand.

So freute sie sich, die beiden oder Nadia oder sonst jemanden von der alten Bande zu sehen. Aber sie konnte sich nicht immer an die Ereignisse erinnern, die sie als unvergeßlich erörterten. Und das war beunruhigend. Eine andere Art von Jamals vu, ihr eigenes Leben. Nein, es war besser, sich auf den Moment zu konzentrieren, hinunter zu gehen und am Wasser zu arbeiten oder an der Beleuchtung des aktuellen Stückes oder in den Bars zu sitzen und mit neuen Freunden von der Arbeit zu plaudern oder auch mit völlig Fremden. Zu warten, daß die Erleuchtung eines Tages kommen würde...

Samantha starb. Dann Wasili. Oh, es lagen zwei oder drei Jahre dazwischen; aber dennoch schien sich das Häufigkeitsmuster nach den langen Dekaden, in denen niemand von ihnen gestorben war, zu beschleunigen. Sie überstanden diese Leichenbegräbnisse so gut sie konnten. Inzwischen wurde alles dunkler, als auf der Corniche ein schwarzer Windstoß über dem Hellespont heranrückte. Die Nationen der Erde schickten immer noch illegale Einwanderer und landeten sie. Die UN drohten noch immer. China und Indonesien gingen sich plötzlich gegenseitig an die Kehle, und Rote Saboteure jagten immer aggressiver die neuen Einrichtungen in die Luft — ohne Unterschied, rücksichtslos und mörderisch. Dann kam Michel eines Tages schwer bekümmert die Treppe herauf: »Yeli ist gestorben.«

»Was? Nein, o nein!«

»Eine Art von Herzarhythmie.«

»O mein Gott!«

Maya hatte Yeli seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen; aber noch einen der restlichen Ersten Hundert zu verlieren, die Möglichkeit zu verlieren, Yelis schüchternes Lächeln wiederzusehen... nein. Sie hörte den Rest von dem, was Michel sagte, nicht, weniger aus Kummer als aus Erregung. Oder Kummer über sich selbst.

»Das wird nun immer öfter passieren«, sagte sie schließlich, als sie merkte, daß Michel sie anstarrte.

Er seufzte. »Kann sein.«

Wieder kamen die meisten der noch überlebenden Mitglieder der Ersten Hundert zur Trauerfeier nach Odessa, die Michel organisiert hatte. Maya erfuhr durch diese Anrufe viel über Yeli, das meiste von Nadia. Er hatte Underhill verlassen und war schon früh nach Lasswitz gezogen. Er hatte geholfen, die zerstörte Stadt wieder aufzubauen und war ein Experte für Reservoir-Hydrologie geworden. Im Jahre ’61 war er mit Nadia gewandert. Bestrebt, Reparaturen auszuführen und sich aus den Unruhen herauszuhalten. Aber in Cairo, wo Maya ihn kurz gesehen hatte, wurde er von den anderen getrennt und es gelang ihm nicht, hinab durch Marineris zu fliehen. Zu jener Zeit hatte man angenommen, er sei damals getötet worden wie Sasha. Aber tatsächlich hatte er überlebt, so wie die meisten Menschen in Cairo. Und nach der Revolte war er nach Sabishii hinuntergezogen, hatte mit dem Untergrund Verbindung aufgenommen und geholfen, Sabishii zur Hauptstadt der Demimonde zu machen. Er hatte eine Weile mit Mary Dunkel zusammengelebt; und als Sabishii von der UNTA geschlossen wurde, waren er und Mary durch Odessa gekommen. Sie waren zur Feier des fünfzigsten Marsjahres dort gewesen. Das war das letzte Mal, daß Maya sich erinnern konnte, ihn gesehen zu haben, genau wie alle Russen in der Gruppe, die die alten Trinksprüche ausgebracht hatte. Danach waren er und Mary aufgebrochen, wie Mary sagte; und war nach Senzeni Na gezogen und dort einer der Anführer in der Zweiten Revolution geworden. Als Senzeni Na sich in der Allianz von Ost-Tharsis mit Nicosia, Sheffield und Cairo zusammenschloß, war er hinaufgegangen, um in Sheffield zu helfen. Dann war er nach Senzeni Na zurückgekehrt und hatte im ersten unabhängigen Stadtrat gedient und war langsam einer der Großväter der dortigen Gemeinschaft geworden, wie viele der Ersten Hundert anderswo auf dem Mars. Er hatte eine Nisei aus Nigeria geheiratet, und sie hatten einen Jungen gehabt. Er war zweimal nach Moskau gereist und war ein beliebter Kommentator für russische Videos gewesen. Zuletzt hatte er mit Peter am Projekt des Argyre-Beckens gearbeitet und einige große Reservoirs unter den Charitum Montes geleert, ohne die Oberfläche zu schädigen. Eine auf Callisto lebende Urenkelin war schwanger. Dann war er eines Tages bei einem Picknick auf der Halde des Moholes von Senzeni Na zusammengebrochen, und sie hatten ihn nicht wiederbeleben können.