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Noch ein unangenehmer Kloß in seinem Geist, wie die plötzlich wieder entdeckte Schuld an Johns Tod, die er versuchen wollte, wieder zu vergessen. Wenn er die interessanten Gedanken auslöschen konnte, sollte er auch imstande sein, die schrecklichen zu tilgen, nicht wahr? John war gestorben; und nichts, was in seiner Macht gestanden hatte, würde das verhindert haben. Sehr wahrscheinlich. Man konnte es nicht klären. Und man konnte auch nicht zurückgehen. John war getötet worden, und Sax hatte es versäumt, ihm zu helfen. Und Sax war am Leben, und John war tot. Nichts als ein starkes verknotetes Netzwerk in den Köpfen aller Leute, die ihn gekannt hatten. Und man konnte nichts machen.

Aber Ann lebte und kletterte da oben die Wände der Caldera von Olympus empor. Er konnte mit ihr reden, wenn er wollte. Obwohl sie nicht herauskommen würde. Er würde sie aufspüren müssen. Aber das konnte er machen. So war es. Der eigentliche Stachel von Johns Tod lag im Tod dieser Chance; er konnte nicht mehr mit ihm sprechen. Aber er konnte immer noch mit Ann sprechen. Diese Chance gab es.

Die Arbeiten an dem Anamnesie-Problem gingen weiter. Acheron war in dieser Hinsicht ein Vergnügen. Tagsüber in den Labors, Gespräche mit den Labordirektoren über ihre Experimente und sehen, ob er helfen konnte. Wöchentlich Seminare, wo man vor den Schirmen zusammenkam, die Resultate austauschte und sich über mögliche Auslegungen unterhielt, und was man als nächstes versuchen sollte. Leute unterbrachen ihre Arbeit, um auf der Farm zu helfen, andere Angelegenheiten zu erledigen oder auf Reisen zu gehen. Aber es gab andere zur Vertretung; und wenn die Wissenschaftler zurückkehrten, hatten sie oft neue Ideen gehabt und waren immer frisch mit Energie geladen. Sax saß nach den wöchentlichen Zusammenkünften immer noch eine Weile in den Seminarräumen und sah sich die Kaffeetassen und die Ringe von braunem Kaffee und schwarzen Kavaflecken auf den abgenutzten Tischplatten und die blanken Tafelschirme an. Sie waren bedeckt von Schemata chemischer Diagramme und großen gebogenen Pfeilen, die auf Akronyme zeigten und alchemische Symbole, wie sie Michel gefallen hätten. Und etwas in ihm erglühte, bis es schmerzte — irgendeine parasympathetische Reaktion, die aus seinem limbischen System ausströmte. Ja bei Gott, das war jetzt Wissenschaft, in den Händen der Wissenschaftler selbst, die zusammen für ein kollektives Ziel arbeiteten, das sinnvoll war, und dem Allgemeinwohl diente. Sie stießen bis an die Grenze ihres Wissens vor. Theorie und Experiment flogen hin und her wie Pingpongbälle. Woche um Woche fanden sie mehr und steckten sich neue Ziele. Sie dehnten den großen unsichtbaren Parthenon bis in das noch nicht kartierte Territorium des menschlichen Geistes aus, in das Leben selbst. Das machte ihn so glücklich, daß es ihn fast nicht kümmerte, wenn sie etwas herausfanden. Die Suche war alles.

Aber sein Kurzzeitgedächtnis war beschädigt. Er experimentierte jeden Tag mit den Ausfällen und Dingen, die ihm permanent auf der Zunge lagen. Manchmal mußte er in den Seminaren mitten im Satz innehalten, sich setzen und den anderen mit der Bitte fortzufahren zuwinken. Sie nickten dann, und die Person an der Wandtafel machte weiter. Nein, er brauchte die Lösung für dieses drängende Problem. Es würde später andere Rätsel geben, denen man nachzugehen hatte, ohne Zweifel. Zum Beispiel der schnelle Verfall selbst oder sonst etwas aus dem Rest des Alterungsproblems. Nein, es mangelte nicht an Unerklärbarem zur Weiterarbeit, und das würde immer so sein. Inzwischen war das Problem der Anamnese hart genug.

Immerhin wurden langsam die Umrisse einer Lösung deutlich. Ein Teil davon würde ein Drogencocktail sein, eine Mischung von Proteinsyntheseverstärkern einschließlich sogar Amphetaminen und chemischen Verwandten des Strychnins, außerdem Überträger wie Serotonin, Anreger von Glutamatrezeptoren, Cholinesterase, zyklische AMP und so weiter. Alles das würde es geben, um auf verschiedenen Wegen die Gedächtnisstrukturen zu verstärken, wenn man sie wieder ablaufen ließ. Andere Stoffe aus der allgemeinen Behandlung von Hirnplastizität, die Sax in der Zeit nach seinem Schlag erfahren hatte, würden hinzukommen. Sodann schien es nach den Experimenten mit elektrischer Stimulation, daß ein anregender Elektroschock und anschließend eine kontinuierliche Schwingung mit sehr raschen Frequenzen in Phase mit den natürlichen Gehirnwellen der Person dazu dienen könnte, die von dem Drogencocktail verstärkten neurochemikalischen Prozesse in Gang zu setzen. Danach würden die Personen die Arbeit des Gedächtnisses so gut steuern, wie sie konnten, vielleicht, indem sie sich von Knoten zu Knoten bewegten, falls das ginge, mit dem Gedanken, daß ein jeder Knoten wieder aufgerufen würde. Das den Knoten umschließende Netzwerk würde dann von den Oszillationen überflutet und entsprechend verstärkt werden. Im Grunde so, als ginge man im Theater des Gedächtnisses von Raum zu Raum. Die Experimente mit allen diesen vielfältigen Aspekten des Prozesses liefen mit Freiwilligen, oft den jungen eingeborenen Experimentatoren selbst. Sie erinnerten sich an sehr viele Dinge und sprachen mit einer Art erstaunter Scheu; und die allgemeinen Aussichten wurden immer besser. Woche um Woche feilten sie ihre Techniken aus und integrierten sie in einen Gesamtprozeß.

Aus den Experimenten ergab sich, daß der Kontext eine wichtige Komponente für den bestmöglichen Erfolg der Erinnerung war. An Listen, die man unter Wasser in Taucheranzügen auswendig gelernt hatte, konnte man sich viel besser erinnern, wenn die Personen wieder auf den Meeresboden gingen, als wenn sie sich an Land daran zu erinnern versuchten. Personen, denen man hypnotisch Gefühle des Glücks oder Kummers eingeflößt hatte, während sie eine Liste lernten, erinnerten sich besser, wenn sie wieder im gleichen Sinne hypnotisiert wurden. Das waren natürlich alles sehr grobe Experimente; aber die Verbindung zwischen Kontext und Erinnerungskraft wurde durch sie stark genug demonstriert, daß Sax ernsthaft erwog, ob er sich nicht der Behandlung unterziehen sollte, wenn sie damit fertig wären. Und wo und mit wem.

Für die abschließende Arbeit an der Behandlung rief Sax Bao Tahashi an und bat sie, für einige Konsultationen zu ihnen nach Acheron zu kommen. Ihre Arbeit war wieder viel theoretischer und bedeutend feinkörniger; aber nach ihrer Arbeit mit der Fusionsgruppe in Da Vinci hatte er einen großen Respekt vor ihrer Fähigkeit, bei jedem Problem zu helfen, bei dem Quantengravitation und die Ultramikrostruktur der Materie beteiligt waren. Sie sollte bloß durchsehen, was sie in Acheron getan hatten. Er war sich ganz sicher, daß ihr Kommentar dazu wertvoll sein würde.

Leider hatte Bao in Da Vinci wichtige Verpflichtungen, wie schon immer seit ihrer viel ausposaunten Rückkehr von Dorsa Brevia. Sax war in der ungewöhnlichen Position, seinen Heimatlabors eine ihrer besten theoretischen Kräfte zu entziehen. Aber er tat das ohne Gewissenbisse und erhielt Belas Hilfe, urh die derzeitige Administration unter Druck zu setzen. »Ka, Sax«, rief Bela bei einem Anruf aus. »Ich hätte nie geahnt, daß du dich als ein so wilder Kopfjäger erweisen würdest.«

Sax entgegnete: »Es ist ja auch mein eigener Kopf, nach dem ich auf der Jagd bin.«

Gewöhnlich war das Aufspüren einer Person so einfach wie das Kontaktieren ihres Handys nachschauen, wo sich die Person befand. Aber Anns Handy war auf dem Rande der Caldera von Olympus Mons bei der Abstiegstation nahe dem Festivalgelände bei Krater Zp zurückgeblieben. Das berührte Sax eigenartig, da sie Handys der einen oder anderen Art seit dem Anfang in Underhill getragen hatten, und Ann genau so wie jeder andere, erinnerte er sich. Oder doch nicht? Er rief Peter an und erkundigte sich. Aber Peter wußte natürlich nichts, da er lange nach den Jahren von Underhill geboren worden war. Auf jeden Fall war das Herumlaufen ohne Armbandgerät jetzt ein Verhalten, das von den neoprimitiven Nomaden entlehnt war, die durch die Canyonländer und die Küste des Nordmeeres zogen, was keine Lebensweise war, an der Ann, wie er sie kannte, irgendein Interesse haben könnte. Man konnte auf dem Olympus Mons nicht im paläolithischen Stil leben. Man brauchte dort oben jede Form von ständiger technischer Unterstützung, die in den meisten Gegenden des Mars nicht mehr notwendig war. Handys waren jedenfalls ein unerläßlicher Bestandteil davon. Vielleicht wollte Ann bloß entkommen. Peter wußte es nicht.