Über den nahen Hügel im Westen kamen Wolken heran. Ihre Unterseiten ruhten auf einer thermischen Schicht so gleichmäßig, als ob sie auf Glas drückten. Bänder wie gesponnene Wolle wiesen den Weg nach Westen.
Sax stand auf und kletterte aus der Senke des Teichs empor. Heraus aus dem Schutz des Lochs, in den erschreckend starken Wind. Die Kälte intensivierte sich, als ob in eben dieser Sekunde eine Eiszeit mit voller Kraft zugeschlagen hätte. Das machte natürlich der Faktor der Windabkühlung. Wenn die Temperatur 262 K betrug und der Wind mit etwa siebzig Kilometern in der Stunde blies, mit Böen, die viel schneller waren, dann würde der Faktor der Abkühlung durch Wind eine Temperatur erzeugen, die etwa 250 K entsprach. Was das richtig? Das war wirklich sehr kalt dafür, sich ohne Helm im Freien aufzuhalten. Und tatsächlich wurden seine Hände taub. Auch seine Füße. Und sein Gesicht war schon gefühllos wie eine dicke Maske vor seinem Kopf. Er erschauerte, und sein Lidschlag schien sich zu verkleben, weil seine Tränen festfroren. Er mußte zu seinem Wagen zurückkehren.
Er stapfte über den steinigen Grund, erstaunt über die Macht des Windes, die Kälte so zu verstärken. Er hatte eine derartige Windkälte seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt und seither vergessen, wie kalt es einem wurde. Er stolperte in den Windstößen auf eine leichte Erhöhung der alten Lava und blickte den Hang hinauf. Dort war sein Rover — groß, lebhaft grün und schimmernd, ungefähr zwei Kilometer höher, wie ein Raumschiff. Ein sehr willkommener Anblick.
Aber jetzt flog der Schnee horizontal an ihm vorbei und gab eine dramatische Demonstration der großen Windgeschwindigkeit. Kleine Körnchen klapperten gegen seine Schutzbrille. Er ging blind weiter in Richtung Rover, hielt den Kopf gesenkt und beobachtete, wie der Schnee über die Felsen wirbelte. Es war so viel Schnee in der Luft, daß er glaubte, seine Brille würde sich beschlagen. Aber nach einem sehr mühsamen Unternehmen, sie innen abzuwischen, wurde klar, daß die Kondensation tatsächlich draußen in der Luft stattfand. Feiner Schnee, Nebel, Staub — das war schwer zu sagen.
Er stapfte weiter. Als er das nächste Mal aufblickte, war die Luft so dick, daß er nicht bis zum Rover sehen konnte. Da war nichts zu machen, als weiter zu drängen. Es war ein Glück, daß der Anzug gut isoliert war und eingenähte Heizelemente hatte, denn selbst bei auf höchste Kraft gestellter Wärme schnitt die Kälte in seine linke Seite, als ob er der Zugluft voll ausgesetzt wäre. Die Sicht betrug nur etwa zwanzig Meter und änderte sich rasch, je nachdem, wieviel Schnee gerade in dem Moment vorbeirauschte. Er befand sich in einer amorphen, sich ausdehnenden und zusammenziehenden weißen Blase, die mit fliegendem Schnee durchsetzt war und dem, was eine Art von gefrorenem Nebel oder Dunst zu sein schien. Es schien, als ob er sich mitten in dem Sturm selbst befände. Seine Beine waren steif. Er schlang die Arme um die Brust und steckte seine behandschuhten Hände in die Achselhöhlen. Es gab keine Möglichkeit zu erkennen, ob er noch in der richtigen Richtung ging. Er schätzte aber, daß er noch auf dem gleichen Kurs war wie zu dem Zeitpunkt, als die Sicht verschwand. Es schien aber auch, daß er schon eine ausreichend weite Strecke zum Rover gegangen war.
Auf dem Mars gab es keine Kompasse. Es gab aber APS-Systeme in dem Apparat an seinem Handgelenk und im Wagen. Außerdem konnte er auf seinem Handy eine detaillierte Karte abrufen und dann den direkten Weg zum Wagen gehen. Das schien eine beträchtliche Anstrengung zu sein, was ihn auf die Idee brachte, daß sein Denken, wie sein Körper, durch die Kälte beeinflußt würde. Aber schließlich war es doch keine zu große Mühe.
So hockte er sich im Windschatten eines Felsblocks hin und versuchte diese Methode. Die Theorie dahinter war offenbar korrekt, aber die Instrumentierung ließ etwas zu wünschen übrig. Der Bildschirm am Handgelenk war nur fünf Zentimeter groß, so klein, daß er die Punkte darauf kaum erkennen konnte. Endlich fand er einen Wegpunkt, ging eine Weile und nahm einen anderen Fixpunkt. Aber merkwürdigerweise zeigten seine Resultate, daß er etwa in einem rechten Winkel zu der Richtung ging, die er kurz zuvor gewählt hatte.
Das war entnervend bis zum Wahnsinn. Sein Körper bestand darauf, daß er den richtigen Weg ging. Sein Verstand (jedenfalls ein Teil davon) war sich ziemlich sicher, daß es besser war, den Anzeigen des Handys zu vertrauen und anzunehmen, daß er irgendwo vom Kurs abgekommen war. Aber sein Gefühl widersprach dem. Der Boden war immer noch geneigt, was das Gefühl seines Körpers bestätigte. Der Widerspruch war so stark, daß er einen Anfall von Schwindel bekam. Das innere Drehmoment verkrampfte ihn so, daß es tatsächlich schwer war zu stehen, als ob jede Zelle seines Körpers sich zur Seite krümmte entgegen dem Druck, welchen ihm das Armband angab. Die physiologischen Effekte einer rein kognitiven Dissonanz. Es war erstaunlich. Es ließ einen fast an die Existenz eines inneren Magneten im Körper glauben, wie in der Epiphyse von Zugvögeln. Aber es gab kein nennenswertes Magnetfeld. Vielleicht war seine Haut für Sonnenstrahlen in dem Maße empfindlich, daß sie die Stellung der Sonne auf den Punkt genau angeben konnte, selbst wenn der Himmel überall ein dickes Grau zeigte. Es mußte etwas derartiges sein; denn sein Gefühl, richtig orientiert zu sein, war so stark!
Endlich verging die Übelkeit der Desorientierung, und schließlich stand er auf und ging in die vom Armband angezeigte Richtung, nur um es zu versuchen und sich besser zu fühlen. Dabei fühlte er sich schrecklich, mit leichter Schlagseite nach rechts, aber man mußte den Instrumenten mehr vertrauen als den Instinkten. Das war Wissenschaft. Und so kämpfte er sich weiter, überquerte den Hang und wandte sich, ungeschickter denn je, etwas aufwärts. Seine fast gefühllosen Füße stießen an Felsen, die er nicht sah, selbst wenn sie direkt unter ihm waren. Er stolperte ab und zu. Es war erstaunlich, wie sehr Schnee die Sicht behindern konnte.
Nach einer Weile hielt er an und versuchte wieder, den Rover durch APS zu orten. Sein Armband schlug jetzt eine völlig neue Richtung vor — nach hinten links.
War es möglich, daß er an dem Wagen vorbeigegangen war? War es das? Er wollte nicht wieder zurückgehen, diesmal gegen den Wind. Aber jetzt war das offenbar der Weg zum Rover. Also duckte er den Kopf in die beißende Kälte und machte weiter. Seine Haut war in einem seltsamen Zustand. Sie schmerzte unter den Heizelementen, die im Zickzack seinen Anzug durchzogen, und war überall taub. Auch seine Füße waren gefühllos. Das Gehen wurde immer schwieriger. Auch in seinem Gesicht hatte er kein Gefühl mehr. Er brauchte einen Schutzraum.
Er hatte eine neue Idee. Er rief Aonia auf Pavonis an und bekam augenblicklich Verbindung.
»Sax! Wo bist du?«
Er sagte: »Deshalb rufe ich ja an. Ich befinde mich in einem Sturm in Daedalia. Ich kann meinen Wagen nicht finden. Ich überlegte, ob du nach meinem APS und dem meines Rovers schauen kannst. Und sehen, ob du mir sagen kannst, in welche Richtung ich gehen soll!«
Er hielt das Armband direkt ans Ohr. »Ka jetzt, Sax.« Das klang, als ob auch Aonia riefe. Sie sei gesegnet! Ihre Stimme war eine seltsame Ergänzung zur Szene. »Nur eine Sekunde, laß mich nachsehen... Okay! Da bist du. Und dein Wagen auch! Was machst du so weit im Süden? Ich glaube nicht, daß ich sehr schnell zu dir kommen kann. Besonders, wenn ein Sturm tobt.«
»Es stürmt fürchterlich. Darum habe ich ja angerufen«, erwiderte er.
»Okay! Du befindest dich ungefähr dreihundertfünfzig Meter westlich von deinem Wagen.«
»Genau westlich?«
»...und etwas südlich. Aber wie willst du dich zurechtfinden?«