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»Und du mich. Als Maya mich nach Franks Tod ankreischte.«

»Ja«, sagte er und dachte zurück. Eine solche Kraft der Erinnerung hatten sie in jenen aufregenden Stunden! Der Wagen war damals ein Schmelztiegel gewesen. Sie hatten sich alle in einer ureigenen individuellen Art darin verwandelt. »Ich denke, ja. Das war nicht fair. Du versuchtest gerade, ihr zu helfen. Und der Ausdruck auf deinem Gesicht...«

Sie standen da und schauten zurück auf die verstreuten niedrigen Gebäude, aus denen Underhill bestand.

Schließlich sagte Sax: »Und hier sind wir nun.«

»Ja. Da sind wir.«

Ein peinlicher Augenblick. Noch ein peinlicher Augenblick. So war das Leben miteinander. Ein peinlicher Moment nach dem anderen. Er hätte sich schon irgendwie daran gewöhnen müssen. Dann trat er zurück, langte hin, faßte ihre Hand und drückte sie kräftig. Dann ließ er sie los. Sie wollte, wie sie sagte, durch die Arkade der verstorbenen Nadia hinaus in die unberührte Wildnis westlich von Underhill gehen. Sie empfing einen Schwall von Erinnerungen, der zu stark war, um sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie mußte gehen.

Er verstand. Sie ging winkend fort. Winkend! Und da war Cojote, drüben nahe den Salzpyramiden, die im Licht des Nachmittags leuchteten. Sax empfand erstmals seit Dekaden die Schwere des Mars, als er zu dem kleinen Mann hinüberhüpfte. Der einzige Mann unter den Ersten Hundert, der kleiner gewesen war als Sax. Sein Waffenbruder.

Während er durch sein Leben schweifte, Schritt für Schritt an einem anderen Ort, jeden Moment von neuem schockiert, war es wirklich recht schwierig, sich auf Cojotes facettiertes asymmetrisches Gesicht zu konzentrieren. Aber da war etwas, eine Vibration, die anscheinend auch in all seinen früheren Gestalten pulsiert hatte. Desmond war sich wenigstens immer selbst mehr oder weniger ähnlich gewesen. Gott wußte, wem Sax für die anderen ähnelte, oder was er sehen würde, wenn er jetzt in einen Spiegel schaute. Die Idee war verwirrend. Es könnte sogar ein interessantes Experiment sein, in einen Spiegel zu blicken, während man sich an etwas aus seiner Jugend erinnerte. Das Bild könnte sich verzerren. Desmond, ein Mann indianischer Abstammung aus Trinidad, sagte jetzt etwas, das schwer zu verstehen war, etwas über die Verzückung in der Tiefe — unklar, ob er die Gedächtnisdroge meinte oder eine Tiefseerfahrung aus seiner Jugend. Sax hatte den dringenden Wunsch, ihm zu sagen, daß Hiroko lebte. Aber als ihm die Worte schon auf der Zunge lagen, hielt er inne. Desmond sah in diesem Moment so fröhlich aus, und er würde Sax nicht glauben. Also würde er ihn nur aufregen. Wissen durch Erfahrung ist nicht immer in diskursives Wissen übertragbar. Das war schade, aber nicht zu ändern. Desmond würde ihm nicht glauben, weil er jene Hand an seinem Handgelenk nicht gefühlt hatte. Und warum sollte er schließlich auch?

Sie gingen hinaus nach Tschernobyl und redeten über Arkadij und Spencer. Sax sagte: »Wir werden alt.«

Desmond johlte. Er hatte immer noch höchst alarmierende Lachanfälle, die aber ansteckend waren, und Sax lachte auch. »Alt werden? Alt werden?«

Der Anblick ihres kleinen Rickover-Kernreaktors versetzte sie in Verzückung. Er war pathetisch, tüchtig, stupide und geschickt. Sax stellte fest, daß ihre limbischen Systeme noch überladen waren und mit allen Emotionen zugleich krächzten. Seine ganze Vergangenheit wurde immer klarer in einer Art von simultanen Überlagerungen von Sequenzen. Jedes Ereignis hatte seine eigene emotionale Ladung, die jetzt alle zugleich losgingen. So voll, so voll! Vielleicht voller als... was? Der Geist? Die Seele? Voller, als es zu sein vermochte. Überfließend, so war das Gefühl. »Desmond, ich fließe über.«

Desmond lachte nur noch heftiger.

Sein Leben hatte das Stadium bereits überschritten, in dem es möglich gewesen wäre, alles zugleich zu empfinden. Was war das überhaupt, dieses Fühlen? Ein limbisches Summen, das Brausen des Windes in den Fichten hoch in den Bergen, wenn man nachts in einem Schlafsack im Felsengebirge liegt und der Wind durch die Nadeln der Fichten faucht... Sehr interessant. Möglicherweise eine Wirkung der Droge, die vorbeigehen würde, obwohl er hoffte, daß es Effekte der Droge gab, die anhalten würden. Und wer konnte sagen, ob das nicht auch für diesen Aspekt als einen integralen Teil des Ganzen gelten konnte? Also: Wenn man sich an seine Vergangenheit erinnern kann und die sehr lang ist, dann fühlt man sich notwendigerweise sehr voll, voller Erfahrungen und Emotionen, bis zu dem Punkt, an dem es nicht leicht sein dürfte, noch viel mehr zu empfinden. War das nicht möglich? Oder vielleicht würde man alles intensiver fühlen als es angemessen war. Vielleicht hatte er sie alle zu schrecklich sentimentalen Leuten gemacht, die von Kummer befallen wurden, wenn sie auf eine Ameise traten und beim Anblick eines Sonnenaufgangs vor Freude weinten. Das wäre ungünstig. Genug war genug oder bereits zuviel. Genug war so gut wie ein Festmahl. Tatsächlich war Sax immer der Meinung gewesen, daß die Amplitude emotionaler Reaktion, die in den Leuten seiner Umgebung zum Ausdruck kam, ohne großen Verlust für die Menschheit ein gutes Stück heruntergeschraubt werden konnte. Natürlich würde es nicht gelingen, ganz gezielt jemandes Emotionen zu dämpfen. Das wäre Verdrängung und Sublimation mit dem daraus resultierenden Überdruck an anderer Stelle. Seltsam, wie nützlich das Freudsche Modell von der Dampfmaschine blieb — Kompression, Entspannung, der ganze Apparat, als ob das Gehirn von James Watt konstruiert worden wäre. Aber reduktive Modelle waren nützlich, sie lagen am Herzen der Wissenschaft. Und er hatte es lange Zeit nötig gehabt, Dampf abzulassen.

So gingen er und Desmond durch Tschernobyl, warfen Steine nach dem Reaktor, lachten und plauderten in rasch wechselnder Folge, weniger in einer Konversation als in einer simultanen Sendung, als wären sie beide absorbiert von ihren eigenen Gedanken. So war das Gespräch sehr wirr, aber dennoch gesellig. Es war tröstend zu hören, wie jemand sich so konfus anhörte. Und zugleich eine große Freude, sich diesem Mann, der sich von ihm in so vieler Hinsicht unterschied, so nahe zu fühlen und mit ihm über die Schule, die Schneelandschaften der südlichen Polgegend und die Parks in der Ares zu schwatzen. Auf diese Weise wurden sie einander irgendwie ähnlich.

»Wir machen alle die gleichen Dinge durch.«

»Das ist wahr! Das ist wahr!«

Seltsam, daß dieser Umstand das Verhalten der Menschen nicht stärker beeinflußte.

Schließlich gingen sie zum Wohnwagenpark zurück. Als sie hindurchliefen, wurden sie langsamer, festgehalten durch die Spinnweben vergangener Erinnerungen. Es war kurz vor Sonnenuntergang. In den Tonnengewölben strömten Leute herum, die auf das Abendessen warteten. Die meisten waren während des Tages zu abgelenkt gewesen, um zu essen, und die Droge schien ein milder Appetitzügler zu sein. Aber jetzt waren die Leute ausgehungert. Maya hatte einen großen Eintopf gekocht und Kartoffeln geschält und dazu getan. Borschtsch? Bouillabaisse? Sie hatte auch daran gedacht, am Morgen einen Backofen in Gang zu setzen, und jetzt füllte der Geruch frischen Brotes die warme Luft der Tonnengewölbe.

Sie versammelten sich in dem großen Doppelgewölbe in der Südwestecke, dem Raum, in dem Sax und Ann zu Beginn des offiziellen Terraformens ihre berühmte Debatte geführt hatten. Hoffentlich würde das Ann nicht einfallen, wenn sie hereinkam. Dagegen sprach nur, daß auf einem kleinen Schirm in der Ecke ein Videoband der Debatte abgespielt wurde. Na schön. Sie würde kurz auf ihre alte Art nach Einbruch der Dunkelheit kommen. Diese Beständigkeit machte allen Spaß. Dadurch war es irgendwie möglich zu sagen: Hier sind wir; die anderen sind heute abend nicht da, sonst ist alles dasselbe. Eine gewöhnliche Nacht in Underhill. Man redete über Arbeit und verschiedene Plätze. Es gab Essen, und es waren die alten vertrauten Gesichter. Als ob Arkadij oder John oder Tatiana jeden Moment hereinspazieren könnten, so wie Ann es jetzt tat, genau pünktlich, mit den Füßen stampfend, um sie aufzuwärmen und die anderen ignorierend, genau wie immer.