Sax überlegte. Das Fehlen eines Magnetfelds auf dem Mars hatte ihn vorher nie so sehr als Problem betroffen. Aber jetzt war es soweit. Er konnte annehmen, daß der Wind direkt von Westen kam. Aber das war bloß eine Vermutung. »Kannst du die nächsten Wetterstationen fragen und mir sagen, aus welcher Richtung der Wind kommt?« sagte er.
»Sicher; aber für lokale Variationen würde das nicht sehr hilfreich sein! Hier, nur eine Sekunde, ich bekomme etwas Hilfe von den anderen.«
Es vergingen lange eisige Momente.
»Sax, der Wind kommt aus Westnordwest! Also mußt du mit dem Wind im Rücken gehen und ein wenig nach links.«
»Ich weiß. Sei still, bis du siehst, welchen Kurs ich einschlage. Und dann korrigiere ihn!«
Er ging weiter, zum Glück fast mit Rückenwind. Nach fünf oder sechs qualvollen Minuten piepte sein Handy.
»Du bist richtig auf Kurs!« sagte Aonia.
Das war ermutigend, und er fuhr mit etwas mehr Geschwindigkeit fort, obwohl der Wind ihm durch seine Rippen bis ins Mark drang.
»Okay, Sax! Sax?«
»Ja.«
»Du und dein Wagen, ihr seid genau auf dem gleichen Fleck!«
Aber es war kein Wagen zu sehen.
Sein Herz stockte in der Brust. Die Sicht betrug noch etwa zwanzig Meter, aber kein Wagen. Er mußte rasch Unterschlupf finden. »Geh in zunehmender Spirale um den Punkt, an dem du jetzt bist!« schlug die kleine Stimme auf dem Handgelenk vor. Theoretisch eine gute Idee; aber er schaffte es nicht, sie auszuführen. Er konnte sich nicht gegen den Wind wenden. Er starrte düster auf die schwarze Plastik-Konsole seines Armbands. Er konnte hier keine Hilfe mehr bekommen.
Einen Moment konnte er Schneebänke links von sich erkennen. Er schlurfte hinüber, um nachzusehen, und entdeckte, daß der Schnee im Lee einer schulterhohen Böschung lag — ein Merkmal, das er sich nicht erinnerte, vorher gesehen zu haben. Aber im Gestein waren einige radiale Brüche, die durch den Aufstieg von Tharsis entstanden waren; und dies mußte einer davon sein, welcher eine Schneebank schützte. Schnee war ein sehr starker Isolator. Obwohl er als Schutz wenig echten Reiz bot. Aber Sax wußte, daß Bergsteiger sich oft darin eingruben, um draußen Nächte zu überstehen. Er schützte vor dem Wind.
Er stieg auf den Boden der Schneebank und trat mit einem tauben Fuß dagegen. Es war, als ob er gegen Stein treten würde. Eine Schneehöhle zu graben schien außer Frage zu stehen. Aber die Anstrengung als solche konnte ihn etwas erwärmen. Am Fuß der Schneebank war es weniger windig. Also trat er und trat, und schließlich wurde sichtbar, daß sich unter einem dicken Batzen von Windplatten das übliche Pulver befand. Vielleicht war eine Schneehöhle doch noch möglich. Er buddelte weiter.
»Sax, Sax!« rief die Stimme von seinem Handgelenk. »Was machst du?«
»Ich mache eine Schneehöhle. Ein Biwak.«
»O Sax, wir fliegen zu Hilfe! Wir können morgen früh auf jeden Fall bei dir sein. Also halt aus! Wir werden weiter zu dir sprechen.«
»Fein!«
Er setzte Tritt nach Tritt und grub. Auf den Knien schöpfte er harten körnigen Schnee und stieß ihn in wirbelnden Flocken über sich. Es war schwer, sich zu bewegen und zu denken. Er bedauerte bitter, sich so weit vom Rover entfernt zu haben, als er von der Landschaft um jenen Eisteich so gefesselt war. Es war eine Schande zu sterben, wenn die Dinge so interessant wurden. Frei, aber tot. In dem Schnee war jetzt eine kleine Kuhle, ein längliches Loch im Windschatten. Er setzte sich müde hin und drängte sich in den freigewordenen Raum, auf der Seite liegend und mit den Stiefeln stoßend. Der Schnee fühlte sich gegen den Rücken seines Anzugs fest an und wärmer als der scharfe Wind. Er begrüßte das Erschauern in seinem Rumpf und empfand eine vage Angst, als es aufhörte. Es war ein schlechtes Zeichen, wenn man zu kalt war, um zu zittern.
Sehr müde, sehr kalt. Er schaute auf sein Armband. Es war vier Uhr nachmittags. Er war gerade etwas mehr als drei Stunden im Sturm marschiert. Er müßte noch weitere fünfzehn oder zwanzig Stunden überleben, ehe er erwarten konnte, gerettet zu werden. Oder vielleicht würde am Morgen der Sturm nachgelassen haben und der Standort des Rovers deutlicher geworden sein. So oder so mußte er die Nacht überleben, indem er sich seine Schneehöhle grub. Oder sich wieder hinauswagen und den Rover finden. Er konnte sicher nicht weit entfernt sein. Aber bis der Wind nachließ, konnte er es sich nicht leisten, nach ihm Ausschau zu halten.
Er mußte in der Schneehöhle warten. Theoretisch würde er eine Nacht im Freien überstehen, obwohl es im Moment so kalt war, daß er das kaum glauben konnte. Die Nachttemperaturen fielen auf dem Mars drastisch. Vielleicht würde der Sturm in der nächsten Stunde nachlassen, so daß er den Rover finden und vor der Dunkelheit erreichen könnte.
Er sagte Aonia und den anderen, wo er war. Sie klangen sehr besorgt, konnten aber nichts tun. Er fühlte Unruhe in ihren Stimmen.
Es schien viele Minuten zu dauern, bis ihm etwas anderes einfiel. Wenn man unterkühlt war, dann wurde der Blutstrom zu den Gliedern stark reduziert.
Vielleicht galt das auch für den Cortex, indem das Blut vorzugsweise ins Kleinhirn floß, damit dieses bis zum Ende seine Aufgabe erfüllen konnte.
Es verging mehr Zeit. Anscheinend war die Dunkelheit nahe. Er sollte wieder rufen. Ihm war zu kalt. Es schien etwas nicht zu stimmen. Vorgerücktes Alter, Höhenlage, Kohlendioxidniveau — irgendein Faktor, oder eine Kombination solcher, machte es schlimmer, als es sein sollte. Er konnte in einer einzigen Nacht durch seine ungeschützte Lage sterben. Und eben das schien er gerade zu tun. So ein Sturm! Vielleicht durch den Verlust der Spiegel. Bevorstehende Eiszeit. Aussterben.
Der Wind machte seltsame Geräusche, wie Rufe. Ohne Zweifel starke Böen. Wie schwache Rufe: »Sax! Sax! Sax!«
Hatten sie jemanden eingeflogen? Er schaute hinaus in den Sturm. Die Schneeflocken fingen irgendwie das späte Licht ein und flogen über ihm wie weißes Rauschen.
Dann sah er zwischen seinen von Eis verkrusteten Wimpern eine Gestalt aus der Dunkelheit auftauchen. Klein, rund, mit Helm. »Sax!« Der Klang war verzerrt. Er kam aus einem Lautsprecher im Helm der Gestalt. Die Techniker von Da Vinci waren sehr erfinderische Leute. Sax versuchte zu antworten, stellte aber fest, daß er zum Sprechen zu schwach war. Es erforderte bereits eine gewaltige Anstrengung, bloß die Stiefel aus dem Loch zu ziehen. Aber das schien das Auge der Gestalt auf sich zu ziehen, denn diese wandte sich um und marschierte zielstrebig durch den Wind. Sie bewegte sich wie ein geschickter Seemann auf einem schwankenden Deck und schlängelte sich durch die Windstöße. Dann erreichte sie ihn, bückte sich und packte Sax am Handgelenk. Durch die Visierscheibe sah er ihr Gesicht so deutlich wie durch ein Fenster. Es war Hiroko. Sie zeigte ihr flüchtiges Lächeln und zog ihn aus seiner Höhle. Sie zerrte so stark, daß die Knochen seiner linken Hand schmerzhaft knackten.
»Au!« krächzte er.
Draußen im Wind war die Kälte wie der Tod persönlich. Hiroko zog seinen linken Arm über die Schulter und führte ihn an der niedrigen Böschung vorbei direkt in die Zähne der Windsbraut, wobei sie sein Handgelenk genau oberhalb des Handys festhielt.
Er murmelte: »Mein Rover ist in der Nähe«, lehnte sich kräftig auf sie und bewegte seine Beine schnell genug, um feste Fußabdrücke zu machen. Es war so gut, sie wiederzusehen. Ihre solide kleine Statur, sehr kräftig wie immer.
Sie sagte über Lautsprecher: »Er ist da drüben. Du bist ziemlich nahe dran.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»Wir haben deine Spur verfolgt, als du von Arsia herunterkamst. Als dann heute der Sturm zuschlug, habe ich dich gesucht und gesehen, daß du außerhalb deines Rovers warst. Danach kam ich heraus, um zu sehen, wie es dir ging.«
»Danke!«
»Du mußt bei Stürmen vorsichtig sein!«