Dann standen sie vor seinem Rover. Sie ließ sein Handgelenk los, das schmerzhaft pochte. Sie drückte ihre Visierscheibe gegen seine Schutzbrille und sagte: »Rein mit dir!«
Er kletterte vorsichtig die Stufen zur Tür des Rovers empor, öffnete sie und fiel hinein. Er drehte sich unbeholfen zur Seite, um für Hiroko Platz zu machen; aber sie war nicht in der Tür. Er lehnte sich in den Wind zurück und schaute sich um. Sie war nicht zu sehen. Es war dunkel. Der Schnee sah schwarz aus. Er rief: »Hiroko!«
Keine Antwort.
Er schloß die Tür der Schleuse, plötzlich erschrocken. Sauerstoffmangel. Er setzte die Schleuse unter Druck und fiel durch die innere Tür in den kleinen Umkleideraum. Es war fürchterlich warm, die Luft ein Dampfstrahl. Er zupfte vergeblich an seiner Kleidung und kam nicht voran. Dann machte er sich methodischer dran. Brille und Gesichtsmaske herunter. Die waren mit Eis verkrustet. Ah! Vielleicht war seine Luftzufuhr in dem Rohr zwischen Tank und Maske durch Eis behindert. Er holte einige Male tief Luft, und überstand sitzend einen neuen Schwindelanfall. Dann zog er an seiner Kapuze und öffnete den Reißverschluß des Anzugs. Das Ausziehen der Stiefel überstieg fast seine Kräfte. Dann der Anzug. Sein Unterzeug war kalt und klamm. Seine Hände brannten wie Feuer. Das war ein gutes Zeichen, ein Beweis dafür, daß er keine wesentlichen Erfrierungen erlitten hatte. Dennoch war es eine Qual.
Seine ganze Haut begann sofort am ganzen Körper gleichzeitig zu jucken. Woher kam das bloß? Rückkehr der Empfindung zu unterkühlten Nerven? Was auch immer es war — es schmerzte fast unerträglich. »Au!«
Trotzdem war er in bester Stimmung. Nicht nur, daß er eben dem Tod entronnen war; das war ganz nett. Aber daß Hiroko lebte! Das war eine unglaublich gute Nachricht. Viele seiner Freunde waren schon seit langem der festen Überzeugung, daß sie und ihre Gruppe vor dem Angriff auf Sabishii geflohen waren und sich durch das Labyrinth des Berges in ihr System verborgener Schlupfwinkel zurückgezogen hatten. Sax war sich nie sicher gewesen. Es gab nichts, das diese Theorie stützte. Und in den Sicherheitskräften gab es Elemente, die durchaus fähig waren, eine Gruppe von Dissidenten zu ermorden und sich ihrer Leichen zu entledigen. Aber er hatte diese Meinung für sich behalten und sich kein Urteil gebildet. Er konnte sich einfach nicht sicher sein.
Aber jetzt wußte er Bescheid. Er war Hiroko in den Weg geraten, und sie hatte ihn vor dem Tod durch Erfrieren gerettet oder Ersticken, je nachdem, was zuerst gekommen wäre. Der Anblick ihres fröhlichen und irgendwie unpersönlichen Gesichts, ihrer braunen Augen, das Gefühl ihres Körpers, der ihn stützte, ihre über sein Handgelenk geklammerte Hand... Er würde davon einen blauen Fleck bekommen. Vielleicht sogar eine Zerrung. Er bog die Hand und von dem Schmerz tränten ihm die Augen. Das brachte ihn zum Lachen. Hiroko!
Nach einiger Zeit ließ das brennende Gefühl auf seiner Haut nach. Obwohl sich seine Hände geschwollen und roh anfühlten und er keine richtige Kontrolle über seine Muskeln hatte, kam er im Grunde auf einen normalen Zustand zurück. Oder einen ungefähr normalen.
»Sax! Sax! Wo bist du? Antworte uns, Sax!«
»Ah, hallo! Ich bin wieder in meinem Wagen.«
»Hast du ihn gefunden? Hast du deine Schneehöhle verlassen?«
»Ja. Ich sah in der Ferne meinen Wagen durch eine Lücke im Schnee.«
Sie waren froh, das zu hören.
Er saß da und hörte kaum ihrem Geschwätz zu und fragte sich, warum er spontan gelogen hatte. Irgendwie war ihm nicht wohl, über Hiroko zu sprechen. Er nahm an, daß sie versteckt bleiben wollte. Vielleicht war es das. Ihr Deckung zu geben...
Er versicherte seinen Genossen, daß es ihm gut gehe, und schaltete die Verbindung ab. Er zog einen Stuhl in die Küche und setzte sich darauf. Er wärmte Suppe und trank mit heftigem Schlürfen, weil er sich sofort die Zunge verbrannt hatte. Vom Frost angegriffen, verbrüht, wackelig, leicht schwindlig, plötzlich weinend, höchst verdutzt... trotz alledem war er sehr, sehr glücklich. Natürlich ernüchtert durch den Anruf und verwirrt oder sogar beschämt durch seine Dummheit, draußen geblieben zu sein und sich verirrt zu haben und das alles. Das war alles sehr ernüchternd; und dennoch war er glücklich. Er hatte überlebt und noch besser: Hiroko auch. Das bedeutete ohne Zweifel, daß ihre ganze Gruppe mit ihr überlebt hatte und auch das halbe Dutzend der Ersten Hundert, das von Anfang an mit ihr gewesen war: Iwao, Gene, Rya, Raul, Ellen, Evgenia... Sax ließ ein Bad ein und setzte sich in das warme Wasser. Er füllte langsam heißeres Wasser nach, als sich das Innere seines Körpers erwärmte. Und er kehrte zu dieser wundervollen Erkenntnis zurück. Ein Wunder — natürlich kein Wunder —, aber es hatte dieselbe Qualität unerwarteter und unverdienter Freude.
Als er merkte, daß er im Bad einzuschlafen drohte, trocknete er sich ab und hinkte auf empfindlichen Füßen zum Bett, kroch unter die Decke und fiel mit den Gedanken an Hiroko in tiefen Schlaf. Er träumte von Liebesspielen mit ihr in den Bädern von Zygote, von dem warmen, entspannten Luxus ihrer Stelldicheins im Badehaus, spät in der Nacht, wenn alle anderen schliefen. Von ihrer um sein Handgelenk geklammerten Hand, die ihn hochzog. Seine linke Hand tat ziemlich weh. Und das machte ihn glücklich.
Am nächsten Tag fuhr er zurück den großen Südhang von Arsia hinauf, der jetzt erstaunlich hoch mit sauberem weißen Schnee bedeckt war — um genau zu sein, 10,4 Kilometer über dem Bezugspunkt. Er empfand eine seltsame Mischung von Emotionen, wie er sie in ihrer Stärke und Dichte noch nie erlebt hatte, obwohl sie irgendwie den starken Gefühlen ähnelten, die er nach seinem Nervenschlag erlebt hatte, so als ob Sektionen seines Gehirns aktiv wüchsen. Vielleicht das limbische System, der Sitz der Emotionen, das sich schließlich mit dem cerebralen Cortex verband. Er war am Leben, Hiroko war am Leben, der Mars war am Leben. Angesichts dieser erfreulichen Fakten war die Möglichkeit einer Eiszeit wie nichts — ein momentaner Pendelschlag in einem allgemein wärmer werdenden Klima, etwas wie der fast vergessene Große Sturm. Obwohl er alles tun wollte, was er konnte, um ihn zu mildern.
Inzwischen spielten sich in der Menschenwelt immer noch scharfe Konflikte ab; auf beiden Welten. Aber Sax schien es, daß die Krise irgendwie über Krieg hinausgegangen wäre. Flut, Eiszeit, Bevölkerungsanstieg, soziales Chaos, Revolution. Vielleicht waren die Dinge so schlimm geworden, weil die Menschheit in eine Art universeller Katastrophenrettungsaktion gerutscht war oder mit anderen Worten in die erste Phase der postkapitalistischen Ära.
Oder vielleicht wurde er nur allzu zuversichtlich, ermuntert durch die Ereignisse in Daedalia Planitia. Seine Kollegen in Da Vinci waren sicher sehr besorgt. Sie verbrachten Stunden am Bildschirm, um ihm jede Kleinigkeit über die in Ost-Pavonis laufenden Diskussionen zu erzählen. Aber er hatte dafür keine Geduld.
Pavonis war dabei, einfach nur eine nicht enden wollende Flut von Streitereien zu werden. Das war deutlich. Und die Leute von Da Vinci, die sich solche Sorgen machten — sie trugen selbst genug dazu bei. Wenn in Da Vinci jemand seine Stimme nur um zwei Dezibel erhob, befürchteten die Leute, daß die Lage außer Kontrolle geraten könnte. Nein! Nach seinen Erfahrungen in Daedalia waren diese Dinge einfach nicht lohnend genug, um ihn zu beschäftigen. Trotz der Begegnung mit dem Sturm, oder vielleicht gerade deswegen, wartete er nur darauf, ins Land hinauszukommen. Er wollte davon so viel wie möglich sehen, um die Veränderungen zu erkennen, die durch die Entfernung der Spiegel bewirkt worden waren, und um mit verschiedenen Terraformungsteams darüber zu sprechen, wie man das ausgleichen könnte. Er rief Nanao in Sabishii an und fragte ihn, ob er zu Besuch kommen und mit den Universitätsleuten darüber sprechen könnte. Nanao war freundlich.
»Kann ich ein paar meiner Kameraden mitbringen?« fragte Sax.
Nanao hatte nichts dagegen.