Und dann fiel ihm ein: »Ann sollte hier sein.«
So kehrte er nach Pavonis zurück und überließ es der Gruppe in Sabishii, die Dinge durchzusprechen.
In Pavonis hatte sich nicht viel geändert. Immer mehr Leute, angespornt von Art Randolph, schlugen vor, einen konstitutionellen Kongreß abzuhalten. Man sollte wenigstens eine provisorische Verfassung erstellen, darüber abstimmen und dann die betreffende Regierung einsetzen.
»Eine gute Idee«, sagte Sax. »Vielleicht auch eine Delegation zur Erde.«
Man streute Samen aus. Es war wie in den Mooren. Manche würden aufgehen, andere nicht.
Er versuchte, Ann zu finden, mußte aber feststellen, daß sie Pavonis verlassen hatte. Wie die Leute sagten, war sie zu einem Außenposten der Roten in Tempe Terra, nördlich von Tharsis aufgebrochen. Sie sagten, daß nur Rote dorthin gingen.
Später bat Sax Steve um Hilfe und sah nach, wo sich dieser Außenposten befand. Dann lieh er sich ein kleines Flugzeug von den Bogdanovisten und flog nach Norden, links an Ascraeus Mons vorbei, dann nach Echus Chasma hinunter und an seinem alten Hauptquartier in Echus Overlook vorbei auf dem hohen Wall zu seiner Rechten.
Ann hatte ohne Zweifel diese Route genommen und somit das erste Hauptquartier der Terraformungsbestrebungen aufgesucht. Terrraformen — das war Evolution in jeder Hinsicht, was Ideen anbelangte. Hatte Ann Echus Overlook zur Kenntnis genommen? Hatte sie sich wenigstens an den kleinen Anfang erinnert? Das konnte man nicht sagen. Das war eben die Art, auf die die Menschen sich gegenseitig kannten: Winzige Bruchteile ihres Lebens überschnitten sich oder waren irgendwie jemandem bekannt. Er war fast so, als ob man allein im Universum lebte. Das war seltsam. Eine Rechtfertigung für das Leben mit Freunden, für Heiraten, für das Teilen von Zimmern und Leben, soweit möglich. Dadurch wurden Menschen nicht wirklich miteinander vertraut, aber es minderte das Gefühl der Einsamkeit. So daß jemand immer noch allein die Ozeane der Welt befuhr, wie in Mary Shelleys The Last Man, einem Buch, das Sax als Jugendlichen stark beeindruckt hatte, in dem der anonyme Held schließlich ein Segel erblickte, ein anderes Schiff traf, an einer Küste ankerte und nach einer gemeinsamen Mahlzeit einsam weiterfuhr. Ein Bild ihres Lebens; denn jede Welt war so leer, wie die von Mary Shelley erfundene, so leer, wie es der Mars zu Anfang gewesen war.
Er flog an der geschwärzten Kurve von Kasei Vallis entlang, ohne das überhaupt zu bemerken.
Die Roten hatten vor langer Zeit einen Felsen von der Größe eines Häuserblocks aus einem Kap gehauen, das genau südlich vom Perepelkin-Krater als letzter trennender Keil zwischen zwei Tempe Fossae diente. Fenster unter Überhängen ermöglichten einen Blick sowohl über die kahlen geraden Canyons wie den größeren Canyon, den diese nach ihrer Vereinigung bildeten. Jetzt hatten alle diese Fossae das eingeschnitten, was zu einem Küstenplateau geworden war. Mareotis und Tempe zusammen bildeten eine große Halbinsel alter Hochländer, die weit in das neue Eismeer hineinragte.
Sax landete mit seinem kleinen Flugzeug auf dem Sandstreifen oben auf dem Vorgebirge. Von hier aus waren weder die Eis-Ebenen zu sehen, noch konnte er irgendeine Vegetation ausmachen — keinen Baum, keine Blume, nicht einmal einen Fleck mit Flechten. Er fragte sich, ob sie die Canyons irgendwie sterilisiert hatten. Nur Urgestein mit etwas Rauhreif. Und sie konnten nichts gegen Reif tun, sofern sie nicht diese Canyons überkuppeln wollten. »Hmm«, sagte Sax, verblüfft über diesen Gedanken.
Zwei Rote führten ihn in die Schleuse auf dem Kap, und er ging mit ihnen die Treppen hinunter. Der Zufluchtsort erwies sich als fast ausgestorben. Auch gut. Es war angenehm, nur den kalten Blicken zweier junger Frauen zu begegnen, die ihn durch die roh in den Fels gehauenen Gänge des Refugiums führten, statt denen einer ganzen Schar Roter ausgesetzt zu sein. Es war interessant, die Ästhetik der Roten zu sehen. Sehr karg, wie zu erwarten war. Keine Pflanze war zu sehen, nur verschiedene Felsstrukturen: Rohe Wände, noch rohere Decken, die mit einem polierten Basaltboden kontrastierten, und die schimmernden Fenster, die auf die Canyons hinausgingen.
Sie kamen zu einem Korridor an der Seite der Klippe, der wie eine natürliche Höhle aussah, nicht gerader als die fast euklidischen Linien in der Tiefe des Canyon selbst. Er sah Mosaiken, die, aus farbigen Steinchen bestehend, in die schwarze Wand eingelegt waren, poliert und lückenlos aneinander gefügt. Sie bildeten abstrakte Muster, die fast etwas darzustellen schienen, wenn er sie scharf ins Auge faßte. Der Boden war ein Steinparkett aus Onyx und Alabaster, Serpentin und Hämatit. Der Korridor führte immer weiter, groß und staubig. Der ganze Komplex war vielleicht etwas außer Gebrauch. Rote bevorzugten ihre Rover, und Plätze wie dieser wurden zweifellos als bedauerliche Notwendigkeiten angesehen. Ein versteckter Zufluchtsort. Wenn die Fensterläden geschlossen waren, hätte man in den Canyons an dieser Stelle ohne weiteres vorbeigehen können, ohne zu bemerken, daß er existierte. Und Sax hatte den Eindruck, daß dies nicht bloß so eingerichtet war, um der Aufmerksamkeit der UNTA zu entgehen, sondern auch um vor dem Land selbst unauffällig zu sein, um mit ihm zu verschmelzen.
Genau das schien Ann dort auf einem steinernen Fensterplatz zu versuchen. Sax blieb abrupt stehen. In Gedanken versunken, wäre er fast mit ihr zusammengestoßen, so wie ein unkundiger Reisender in das Refugium hätte laufen können. Sie saß auf einem Felsbrocken. Er schaute sie genau an. Sie wirkte ungesund. Viel mehr war nicht zu erkennen, und je länger Sax sie ansah, desto beunruhigter wurde er. Sie hatte ihm einmal erzählt, daß sie nicht mehr die Langlebigkeitsbehandlung nähme. Das war vor einigen Jahren gewesen. Und während der Revolution hatte sie gebrannt wie eine Flamme. Jetzt nachdem die Rote Rebellion erstickt war, war sie Asche. Graues Fleisch. Es war ein schrecklicher Anblick. Sie war um die 150 Jahre alt wie alle noch Lebenden der Ersten Hundert. Und ohne die Behandlungen... würde sie bald sterben.
Nun gut. Streng genommen war sie im physischen Äquivalent von siebzig oder so, je nachdem, wann sie zuletzt die Behandlungen gehabt hatte. Soweit nicht schlecht. Vielleicht würde Peter es wissen. Aber je mehr Zeit zwischen den Behandlungen verging, desto größere Probleme entstanden, hatte er gehört — statistisch gesehen. Das ergab Sinn. Jetzt war es wichtig, sich klug zu verhalten.
Aber das konnte er ihr nicht sagen. Es war überhaupt schwer, sich vorzustellen, was er ihr sagen könnte.
Sie erkannte ihn und erschauerte. Ihre Lippe hob sich wie bei einem gefangenen Tier. Dann schaute sie grimmig mit steinernem Gesicht von ihm weg. Jenseits von Ärger oder Hoffnung.
Sax sagte lahm: »Ich wollte dir etwas von dem Tyrrhena-Massiv zeigen.«
Sie stand auf wie eine Statue und verließ den Raum.
Sax fühlte seine Gelenke knacken in dem pseudoarthritischen Schmerz, der so oft seinen Umgang mit Ann begleitete, und folgte ihr.
Hinter ihm klebten die zwei ernstblickenden jungen Frauen. Die größere von ihnen sagte zu ihm. »Ich glaube nicht, daß sie mit dir sprechen will.«
»Sehr scharfsinnig von dir«, sagte Sax.
Weit hinten im Gang stand Ann vor einem anderen Fenster — wie gebannt oder zu erschöpft, um sich zu bewegen.
Sax blieb vor ihr stehen.
»Ich möchte deine Eindrücke hören. Deine Vorschläge für das, was wir als nächstes tun könnten«, sagte er. »Und ich habe einige areologische Fragen. Natürlich könnte es sein, daß streng wissenschaftliche Fragen für dich nicht mehr von Interesse sind...«
Sie tat einen Schritt auf ihn zu und schlug ihm ins Gesicht. Er wurde gegen die Wand des Gangs geschleudert und kam auf den Hintern zu sitzen. Ann war nirgends zu sehen. Die zwei jungen Frauen, die offenbar nicht wußten, ob sie jubeln oder stöhnen sollten, halfen ihm auf die Füße. Sein ganzer Körper schmerzte, noch mehr als sein Gesicht; und seine Augen waren sehr heiß und brannten ein wenig. Es war, als würde er gleich vor diesen beiden jungen Idioten weinen, die dadurch, daß sie ihm folgten, alles enorm komplizierten. Wenn sie dabei waren, konnte er weder schreien noch flehen, er konnte nicht vor Ann auf die Knie sinken und sagen: »Bitte, verzeih mir!« Das war unmöglich.