Ann schien sehr schlecht gelaunt zu sein. Das war in gewisser Weise beruhigend. Mangel an Affekt wäre ein sehr schlechtes Zeichen gewesen; aber sie wirkte immer noch recht emotional. Zumindest die meiste Zeit. Manchmal konzentrierte sie sich so stark auf das Gestein, daß es fast schien, sie würde ihrem alten, besessenen Enthusiasmus huldigen, und er war ermutigt. Andere Male schien es, als ob sie nur den Emotionen nachginge und Areologie betriebe in einem verzweifelten Versuch, den jetzigen Moment und die Geschichte abzuschieben, oder die Verzweiflung, oder all das. In solchen Momenten war sie ziellos und blieb nicht stehen, um deutlich interessante Merkmale zu betrachten, an denen sie vorbeikamen; und beantwortete auch keine Fragen dazu. Der kleine Sax hatte Alarmierendes über Depression gelesen. Man konnte nicht viel tun. Man brauchte Drogen, um dagegen zu kämpfen; und selbst dann war nichts sicher. Aber Antidepressiva vorzuschlagen war mehr oder weniger dasselbe, wie die Behandlung selbst vorzuschlagen. Darum konnte er nicht darüber sprechen. Und außerdem — war Verzweiflung nicht dasselbe wie Depression?
Zum Glück gab es in diesem Gebiet jämmerlich wenige Pflanzen. Tempe war nicht wie Tyrrhena oder auch nur die Ränder des Arena-Gletschers. Ohne aktive Gartenarbeit war dies das Ergebnis: Die Welt blieb steinig.
Andererseits lag Tempe auf geringer Höhe und war feucht, mit dem Eisozean nur wenige Kilometer im Norden und Westen. Und etliche John-Appleseed- Flüge waren über der ganzen südlichen Küstenlinie des neuen Meeres ausgeführt worden — teils auf Bemühungen von Biotique schon vor einigen Dekaden, als Sax in Burroughs gewesen war. Man konnte darum einige Flechten sehen, wenn man scharf hinschaute. Und kleine Flecke von Fjellfeld. Außerdem ein paar Krummholzbäume, die halb im Schnee begraben waren. All diese Pflanzen hatten Mühe mit diesem nördlichen, zum Winter gewordenen Sommer, ausgenommen natürlich die Flechten. Es gab schon einen merklichen Anteil an verkleinerter Herbstfarbe — dort in den kleinen Blättern der an den Boden geduckten Koenigia, kleinwüchsigem Hahnenfuß und Eisgras, sowie — ja — arktischem Steinbrech. Man mußte nur genau hinsehen, denn die sich rötenden Blätter dienten als eine Art von Tarnung im roten Gestein der Umgebung. Sax sah Pflanzen oft nicht, bis er fast darauf trat. Und natürlich wollte er Anns Aufmerksamkeit nicht darauf lenken. Wenn er also auf eine stieß, warf er nur einen raschen bewertenden Blick darauf und ging weiter.
Sie erklommen einen Hügel, der über den Canyon westlich des Stützpunktes ragte; und da war es: das große Eismeer, in dem späten Licht ganz orange- und messingfarben. Es füllte das Tiefland in einem weiten Bereich und bildete seinen eigenen glatten Horizont von Südwesten bis Nordosten. Mesas aus dem zergliederten Terrain ragten jetzt wie Inseln mit steilen Klippen aus dem Eis heraus. Tatsächlich entwickelte sich dieser Teil von Tempe zu einer der dramatischsten Küstenlinien auf dem Mars, bei dem die unteren Enden mancher Fossae, die überschwemmt worden waren, lange Fjords oder Lochs bildeten. Und ein Küstenkrater lag genau auf dem Niveau des Meeres und hatte eine Lücke zum Wasser hin, so daß er eine perfekte runde Bucht von etwa fünfzehn Kilometern Durchmesser mit einem Zugangskanal von etwa zwei Kilometern Breite bildete. Weiter im Süden schuf das zergliederte Terrain am Fuße der Großen Böschung eine wahre Hebriden-Gruppe aus Archipelen. Viele der Inseln waren von den Klippen des Hauptlandes aus zu sehen. Ja, wirklich eine dramatische Küstenlinie, wie man schon erkennen konnte, wenn man die zerbrochenen Eisschollen bei Sonnenuntergang betrachtete.
Ganz zu schweigen von all dem Eis und den zerklüfteten Bergen an der neuen Küstenlinie. Die Hügel hatten sich durch einen Prozeß gebildet, den Sax nicht kannte, obwohl er ihn interessierte. Aber man konnte nicht darüber diskutieren. Man konnte nur still dastehen, als ob man auf einen Friedhof geraten wäre.
Verwirrt kniete Sax sich hin, um ein Exemplar von Tibetischem Rhabarber anzuschauen, auf das er beinahe getreten wäre. Kleine rote Blätter als Blümchen mit zentraler roter Knolle.
Ann sah ihm über die Schulter. »Ist sie tot?«
»Nein.« Er zupfte ein paar tote Blätter von äußeren Teilen des Blümchens ab und zeigte Ann die helleren darunter. »Sie richtet sich schon auf den harten Winter ein. Durch die Minderung des Lichts getäuscht.« Dann fuhr Sax fort, wie im Selbstgespräch: »Dennoch werden viele Pflanzen sterben. Der thermische Umschwung, bei dem die Lufttemperaturen kälter geworden sind als die am Boden, ist mehr oder weniger über Nacht gekommen. Es wird keine große Chance für Winterhärtung geben. Somit viel Frosttod. Planzen kommen damit besser zurecht, als Tiere dazu in der Lage wären. Und Insekten sind erstaunlich gut, wenn man bedenkt, daß sie nur geringe Flüssigkeitsreserven haben. Sie haben einen starken Frostschutz. Ich denke, sie können allem widerstehen, was auch geschieht.«
Ann betrachtete immer noch die Pflanze; und so hielt Sax den Mund. Er wollte sagen, daß sie lebt. Insofern die Mitglieder einer Biosphäre für ihre Existenz voneinander abhängen, ist sie ein Teil unseres Körpers. Wie kann man sie hassen?
Aber dennoch nahm sie es nicht hin, wie er sie behandelte.
Das Eismeer war ein zerrissener Glanz aus Bronze und Koralle. Die Sonne war gerade dabei unterzugehen. Sie mußten zurückkehren. Ann reckte sich und ging fort — eine schweigende schwarze Silhouette. Sax konnte ihr ins Ohr sprechen, selbst jetzt, wenn sie hundert Meter entfernt war, und dann zweihundert. Eine kleine schwarze Gestalt in der großen weiten Welt. Er tat es nicht. Das wäre ein Eindringen in ihre Privatsphäre gewesen, fast in ihre Gedanken. Wie sehnte er sich zu sagen: Ann, Ann, was denkst du? Sprich zu mir, Ann! Teil mir deine Gedanken mit!
Das starke Verlangen, mit jemandem zu sprechen, war schmerzlich scharf. Das war es, was die Menschen meinten, wenn sie von Liebe sprachen. Nur das. Oh, Ann, bitte sprich zu mir!
Aber sie sprach nicht zu ihm. Auf sie schienen die Pflanzen nicht den Effekt zu haben wie auf ihn. Sie schien sie geradezu zu verabscheuen, diese kleinen Embleme ihres Körpers, als ob Viriditas nichts als ein Krebsgeschwür wäre, das der Fels erleiden mußte. Zwischen den zunehmenden Haufen vom Wind verwehten Schnees waren die Pflanzen kaum noch sichtbar. Es wurde dunkel, ein neuer Sturm zog auf, tief über der schwarzkupfernen See. Ein Moospolster, eine von Flechten bedeckte Steinfläche. Meist war es Fels allein, so wie es immer gewesen war. Dennoch!
Als sie dann wieder in die Schleuse des Refugiums traten, fiel Ann in Ohnmacht. Auf dem Weg nach unten stieß sie mit dem Kopf an den Türpfosten. Sax packte sie, als sie auf einer Bank an der Innenwand landete. Sie war bewußtlos. Sax trug sie halb, halb schleifte er sie den ganzen Weg bis zur Schleuse. Dann schloß er die äußere Tür und zog Ann, als die Schleuse wieder unter Druck stand, durch die Innentür in den Umkleideraum. Sax mußte auf der allgemeinen Frequenz laut gerufen haben; denn bis er ihr den Helm abgenommen hatte, befanden sich fünf oder sechs Rote im Raum — mehr, als er bisher überhaupt in dem Refugium gesehen hatte. Eine der jungen Frauen, die ihm so lästig gewesen waren, die kleinere, erwies sich als die Ärztin der Station. Als sie Ann auf einen Tisch mit Rollen gelegt hatten, der als Rolltrage dienen konnte, wies diese Frau ihm den Weg zur Stationsklinik und übernahm die Leitung. Sax half, soweit er konnte, und zog Ann mit zitternden Händen die Stiefel von den Füßen. Sein Puls ging laut Armband mit 145 Schlägen in der Minute, und er fühlte sich heiß und schwindelig.
»Hat sie einen Schlaganfall gehabt?« fragte er.
Die kleine Frau machte ein überraschtes Gesicht. »Ich denke, nein. Sie ist ohnmächtig geworden und dann mit den Kopf angeschlagen.«