»Interessant«, sagte Sax, erleichtert über die bloße Aussicht, der Lage zu entkommen. Es war wirklich erschreckend, wie rasch er sich zehn gute Gründe ausdenken konnte, zur Erde zu reisen. »Aber was ist mit Pavonis und dieser Konferenz, über die man spricht?«
»Daran können wir per Video teilnehmen.«
»Stimmt.« Dies war genau das, was er immer behauptet hatte.
Der Plan war verlockend. Sax wollte nicht hier sein, wenn Ann aufwachte. Oder vielmehr, wenn sie herausfand, was er getan hatte. Natürlich war das feige. Aber trotzdem! »Desmond, gehst du?«
»Keine lausige Chance.«
»Aber du sagst, daß Maya auch geht?« fragte Sax Michel.
»Ja.«
»Gut. Als ich letztes Mal versucht habe, einer Frau das Leben zu retten, hat Maya die getötet.«
»Was? Phyllis? Du hast Phyllis das Leben gerettet?«
»Nun ja, eigentlich nicht. Das heißt, ich tat es. Aber ich war auch derjenige, der sie in Gefahr gebracht hat. Darum denke ich nicht, daß das zählt.« Er versuchte zu erklären, was in jener Nacht in Burroughs geschehen war, aber mit wenig Erfolg. Es war ihm selbst unklar — bis auf die Erinnerung an gewisse lebhaft schreckliche Momente. »Macht nichts. Es war bloß ein Gedanke. Ich hätte nicht reden sollen. Ich bin... «
»Du bist müde«, sagte Michel. »Aber mach dir keine Sorgen! Maya wird von der Szene hier weg sein und sicher unter unseren Augen.«
Sax nickte. Das klang immer besser. Man sollte Ann einige Zeit geben, sich zu beruhigen, darüber nachzudenken und es zu verstehen. Hoffentlich. Und es wäre natürlich sehr interessant, die Verhältnisse auf der Erde aus erster Hand zu sehen. Äußerst interessant. So interessant, daß kein vernünftiger Mensch sich diese Gelegenheit entgehen lassen würde.
DRITTER TEIL
Eine neue Verfassung
Ameisen kamen als Teil des Humusprojekts auf den Mars und waren, wie es so ihre Art ist, bald überall zu finden. Als die kleinen roten Leute auf Ameisen trafen, waren sie erstaunt. Diese Kreaturen hatten genau die richtige Größe zum Reiten. Es war wie damals, als die Eingeborenen Amerikas das Pferd kennengelernt hatten. Egal, wie sicher man sich auch war, die Dinge unter Kontrolle zu haben, wirksam und nachhaltig gezähmt zu haben, sie machten sich selbständig und zwar wild und unvermutet.
Das Domestizieren der Ameisen war keine leichte Aufgabe. Die kleinen roten Wissenschaftler hatten nicht einmal geglaubt, daß solche Kreaturen möglich wären, wegen der Einschränkungen durch das Verhältnis von Fläche zu Volumen. Aber es gab sie, und sie trampelten herum wie intelligente Roboter. Darum mußten die kleinen roten Wissenschaftler sie erklären. Auf der Suche nach Hilfe stiegen sie in die Nachschlagewerke der Menschen und sahen unter ›Ameisen‹ nach. Sie erfuhren von den Pheromonen der Ameisen und synthetisierten diejenigen, die sie brauchten, um die Soldatenameisen zu kontrollieren und eine besonders kleine gelehrige Spezies zu züchten. Danach waren sie im Geschäft. Kleine rote Kavallerie. Sie stießen auf Ameisenrücken überall vor und hatten eine feine Zeit — zwanzig oder dreißig von ihnen auf jeder Ameise, wie Paschas auf Elefanten. Wenn man genügend Ameisen genau ansieht, kann man sie dort sitzen sehen.
Die kleinen roten Wissenschaftler lasen weiterhin die Lehrbücher und erfuhren von menschlichen Pheromonen. Sie kehrten erschrocken zum Rest des kleinen roten Volkes zurück. Sie berichteten: Jetzt wissen wir, warum diese menschlichen Wesen so lästig sind. Sie haben nicht mehr Willen als diese Ameisen, auf denen wir umherreiten. Sie sind einfach nur gigantische Fleischameisen.
Das kleine rote Volk versuchte, diese Travestie des Lebens zu verstehen.
Nein, das sind sie nicht, sagte plötzlich eine Stimme — zu allen auf einmal. Die kleinen roten Leute verständigen sich untereinander telepathisch, mußt du wissen; und dies war wie eine telepathische Lautsprecheransage. Menschen sind spirituelle Wesen, behauptete diese Stimme.
Woher weißt du das? fragte das kleine rote Volk telepathisch. Wer bist du? Der Geist von John Boone?
Ich bin der Gyatso Kimpocht, antwortete die Stimme. Die achtzehnte Reinkarnation des Dalai Lama. Ich reise durch den Bardo auf der Suche nach meiner neuen Reinkarnation. Ich habe mich überall auf der Erde umgesehen, hatte aber kein Glück und habe beschlossen, anderswo zu suchen. Tibet ist immer noch in der Gewalt der Chinesen, und es gibt keine Anzeichen, daß sie vorhätten, nachzugeben. Die Chinesen sind, obwohl ich sie sehr liebe, harte Schurken. Die anderen Regierungen der Erde haben Tibet schon lange den Rücken zugekehrt. Niemand will die Chinesen herausfordern. Es muß aber etwas geschehen. Deshalb bin ich zum Mars gekommen.
Eine gute Idee, erklärte das kleine rote Volk.
Allerdings, gab der Dalai Lama zu, muß ich einräumen, daß es mir schwer fällt, einen neuen Körper zum Bewohnen zu finden. Es gibt überall nur sehr wenige Kinder. Außerdem scheint niemand interessiert zu sein. Ich habe mich in Sheffield umgesehen; aber jeder war zu beschäftigt, um zu sprechen. Ich ging nach Sabishii; aber dort hatten alle den Kopf in den Sand gesteckt. Ich ging nach Elysium; aber jeder hatte die Lotoshaltung eingenommen und wollte nicht gestört werden. Ich ging nach Christianopolis; aber dort hatten alle andere Pläne. Ich ging nach Hiranyagarbha; aber dort sagten alle, sie hätten schon genug getan für Tibet. Ich bin auf dem Mars überallhin gegangen in jede Kuppel und jede Station; und überall waren die Leute einfach zu beschäftigt. Niemand will der neunzehnte Dalai Lama sein. Und der Bardo wird immer kälter und kälter.
Welch ein Glück! sagte das kleine rote Volk. Wir haben gesucht, seit John gestorben ist und haben niemanden gefunden, mit dem es sich gelohnt hätte zu sprechen, geschweige denn in ihm zu leben. Diese großen Leute sind alle durcheinander.
Der Dalai Lama war von dieser Antwort enttäuscht. Er war bereits sehr müde und konnte nicht noch länger im Bardo verweilen. Darum sagte er: Wie wäre es mit einem von euch?
Ja, sicher, sagte das kleine rote Volk. Es wäre uns eine Ehre. Aber es müßten wir alle zugleich sein. So etwas machen wir immer gemeinsam.
Warum nicht? Der Dalai Lama transmigrierte in einen der kleinen roten Flecken und war im gleichen Augenblick in ihnen allen anwesend, auf dem ganzen Mars. Das kleine rote Volk schaute auf, als die Menschen über ihnen herumtobten — ein Anblick, den sie zuvor für eine Art von schlechtem Breitwandfilm zu halten pflegten. Jetzt aber waren sie voll von allem Mitgefühl und aller Weisheit der vorangegangenen Leben des Dalai Lama. Sie sagten zueinander: Ka woiv, diese Leute sind wirklich durcheinander. Wir hielten das schon früher für schlimm; aber wenn man sich das so ansieht, ist es noch schlimmer, als wir dachten. Sie haben Glück, daß sie nicht gegenseitig ihre Gedanken lesen können. Sonst würden sie einander töten. Das muß aber der Grund sein, aus dem sie sich gegenseitig umbringen. Sie wissen, was sie selbst denken, und verdächtigen darum alle anderen. Wie häßlich! Wie traurig!
Sie brauchen eure Hilfe, sagte der Dalai Lama in ihnen allen. Vielleicht könnt ihr etwas für sie tun.
Vielleicht, sagte das kleine rote Volk. Um die Wahrheit zu sagen, waren sie im Zweifel, was die Durchführbarkeit anbelangte. Sie hatten schon versucht, den Menschen zu helfen, bereits bei Johns Tod. Sie hatten ganze Städte gegründet in den Verandas jedes Winkels auf dem Planeten und redeten seitdem ständig, um Leute aufzuwecken und zu anständigem Handeln zu bringen. Sie hatten dabei aber keinen Erfolg gehabt, außer daß viele Menschen zu Hals-, Nasen-, Ohrenärzten gingen, weil sie die vielen kleinen Stimmen für Ohrensausen hielten; aber keiner von ihnen verstand jemals das kleine rote Volk. Das genügte, um alle zu entmutigen.