Und sie war dabei so beharrlich, nicht schimpfend, wie Maya es getan hätte; sondern einfach so unerbittlich, daß sie zustimmen mußten. Schließlich war alles für die Diskussion am großen Tisch offen. Darum ergaben die leeren Verfassungen Sinn als Ausgangspunkt. Und deshalb sollten sie damit weitermachen. Es wurde darüber abgestimmt, und die Mehrheit entschied sich dafür, einen Versuch zu machen.
Somit hatten sie nun also die erste Hürde genommen. Jeder hatte zugestimmt, nach dem gleichen Plan fortzufahren. Es war erstaunlich, dachte Art, der von einem Meeting zum anderen sauste, voller Bewunderung für Nadia. Sie war kein gewöhnlicher Diplomat und folgte keineswegs dem leeren Schiffsmodell, das Art anstrebte. Aber sie hatte dennoch Erfolg. Sie hatte das Charisma der Empfindsamkeit. Er hätschelte sie jedesmal, wenn er an ihr vorbeikam, er küßte sie aufs Haar, er liebte sie. Mit jenem Reichtum an guter Stimmung platzte er in die Sitzungen hinein, wo er konnte, und sah zu, was er tun konnte, um die Dinge in Gang zu halten. Oft handelte es sich nur darum, die Leute hinreichend mit Speisen und Getränken zu versorgen, daß sie den Tag durchhalten konnten, ohne mürrisch zu werden.
Zu jeder Tageszeit war der große Tisch dicht besetzt. Junge Walküren mit frischen Gesichtern thronten über sonnenverbrannten alten Veteranen. Alle Rassen, alle Typen. Das war Mars im m-Jahr 52, eine Art von de facto vereinten Nationen ganz für sich. Mit aller potentiellen Zerbrechlichkeit dieses bekanntermaßen spröden Körpers. So daß Art bisweilen, wenn er all die verzweifelten Gesichter ansah und dem Gewirr von Sprachen lauschte — Englisch hoch Babylon —, von ihrer Vielfalt nahezu überwältigt wurde. »Ka, Nadia«, sagte er, als sie saßen, Sandwiches aßen und ihre Notizen für den Tag durchsahen, »wir versuchen, eine Verfassung zu schreiben, der jede Kultur der Erde zustimmen könnte!«
Sie wischte das Problem weg und schluckte. Dann sagte sie: »Es ist wohl an der Zeit.«
Charlotte schlug vor, die Erklärung von Dorsa Brevia als einen logischen Ausgangspunkt zu nutzen, um den Inhalt zu diskutieren, der die Verfassungsformeln ausfüllen sollte. Dieser Vorschlag schuf noch mehr Unruhe, als es selbst die Leerformen getan hatten; denn den Roten und etlichen anderen Delegationen gefielen verschiedene Punkte der alten Deklaration nicht, und sie argumentierten, daß durch deren Verwendung der Kongreß von Anfang an auf den falschen Weg gebracht werden würde.
»Was also dann?« fragte Nadia. »Wir können, wenn wir wollen, jedes Wort darin ändern, aber wir müssen mit etwas den Anfang machen.«
Dieser Standpunkt gefiel den meisten alten Untergrundgruppen, von denen viele im Marsjahr 39 in Dorsa Brevia gewesen waren. Die damals gefundene Deklaration war das beste Ergebnis des Untergrunds geblieben, in dem Bemühen, das aufzuschreiben, worauf sie sich damals geeinigt hatten, als sie keine Macht besaßen. Darum war es sinnvoll, damit anzufangen. Sie gab ihnen einen Präzedenzfall, eine Art historischer Kontinuität.
Als sie sich diese aber vornahmen und hineinschauten, entdeckten sie, daß die alte Deklaration erschreckend radikal gewesen war. Kein Privateigentum? Keine Aneignung von Mehrwert? Hatten sie wirklich solche Forderungen proklamiert? Wie, hatte man gedacht, sollte das funktionieren? Die Leute grübelten über den nüchternen kompromißlosen Sätzen und schüttelten die Köpfe. In der Deklaration hatte sich niemand bemüht zu sagen, wie ihre erhabenen Ziele verwirklicht werden sollten. Sie hatten diese nur konstatiert. »Die Routine der Steintafeln«, wie Art sie charakterisiert hatte. Aber jetzt war die Revolution erfolgreich gewesen und die Zeit gekommen, etwas in der realen Welt zu tun. Konnten sie wirklich an so radikalen Konzepten festhalten, wie dem Vorliegenden, der Deklaration von Dorsa Brevia?
Schwer zu sagen. »Zumindest sollten die Punkte zur Diskussion stehen«, gab Nadia zu bedenken.
Und mit ihnen zusammen waren auf allen Bildschirmen die leeren Verfassungen mit ihren Kapitelüberschriften, die sämtlich die vielen Probleme ansprachen, mit denen sie würden zurechtkommen müssen: Struktur der Regierung, Exekutive; Struktur der Regierung, Legislative; Gerichtswesen; Bürgerrechte, Militär und Polizei, Steuerwesen, Wahlverfahren, Eigentumsrecht, Ökonomische Systeme, Umweltrecht, Änderungsprozeduren und so weiter; auf jedem verfügbaren Blatt Papier, auf jeder freien Bildschirmseite. Ohne Ende. Alles auf die privaten Schirme gezaubert, vermischt, formatiert, endlos debattiert. »Bloß die Formulare ausfüllen«, wie Art eines Abends sang, als er Nadia über die Schulter schaute, die über einem besonders abzulehnenden saß. Es hatte etwas von Michels alchemistischen combinatoires. Und Nadia lachte.
Die Arbeitsgruppen konzentrierten sich auf verschiedene Teile der Regierung, wie sie in der neuen, zusammengesetzten leeren Verfassung umrissen waren, die man jetzt das große Blankett nannte. Politische Parteien und Interessengruppen tendierten zu den Themen, die sie am meisten betrafen, und die vielen Delegationen der Kuppelstädte entschieden sich für die übrigen Gebiete, oder sie wurden ihnen zugewiesen. Danach war es nur noch eine Frage der Umsetzungsarbeit.
Im Augenblick hatte die technische Gruppe des Kraters Da Vinci die Kontrolle des Raums um den Mars. Sie betrieben alle Raumfähren vom Andocken auf Clarke bis zum aerodynamischen Bremsen in den Marsorbit hinein. Niemand glaubte, daß dies allein sie wirklich frei machte; aber es gab ihnen einen gewissen physischen und psychischen Raum, in dem sie arbeiten konnten. Das war das Geschenk der Revolution. Sie wurden auch angetrieben durch die Erinnerung an die Schlacht von Sheffield. Die Furcht vor einem Bürgerkrieg unter ihnen war stark. Ann war mit den Kakaze im Exil, und Sabotage im Hinterland war alltäglich. Es gab auch Kuppeln, die sich von jedermann für unabhängig erklärt hatten, und ein paar Schlupfwinkel der Metanats. Es herrschte allgemein Unruhe und kaum im Zaum gehaltene Verwirrung. Sie waren eine Blase in der Geschichte, nur für einen Moment. Diese konnte jederzeit in sich zusammenfallen; und das würde auch passieren, wenn nicht bald etwas geschah. Es war — kurz gesagt — Zeit zum Handeln.
In diesem einen Punkt waren sich alle einig. Aber das war auch sehr wichtig. Im Lauf der Tage kristallisierte sich allmählich eine Kerngruppe von Arbeitern heraus, die sich durch ihre Bereitschaft auszeichnete, den Job zu tun, und ihren Wunsch, Paragraphen abzuhandeln, statt sich in Delegatenpose zu werfen. An der ganzen übrigen Debatte nahmen diese Leute unter der Führung von Nadia teil, die das Geschenk, das ihr da in den Schoß gefallen war, sehr rasch erkannte und ihnen jede Hilfe angedeihen ließ, die sie geben konnte.
Art rannte inzwischen in seiner üblichen Weise herum. Morgens stand er früh auf, um für Getränke und Speisen zu sorgen; und für Informationen über die in den anderen Räumen laufenden Arbeiten. Er hatte den Eindruck, daß sich die Dinge recht gut entwickelten. Die meisten Untergruppen nahmen die Verantwortung auf sich, ihr Formular ernsthaft auszufüllen. Sie schrieben Entwürfe und änderten sie ab, arbeiteten aus — Konzept um Konzept, Satz um Satz. Sie freuten sich, Art zu sehen, wenn er im Laufe des Tages vorbeikam, da es eine Pause bedeutete, etwas zu essen und ein paar Scherze. Eine juristische Gruppe befestigte an seinen Schuhen Gummiflügel und schickte ihn mit einer bissigen Botschaft zu einer exekutiven Gruppe, mit der sie sich stritt. Art freute sich und behielt die Flügel an. Warum nicht? Was sie machten, hatte spielerische Würde und würdevolle Heiterkeit. Sie änderten die Gesetze; und er flog umher wie Hermes oder Puck. Das war durchaus passend. Und so flog er also lange Stunden Nacht für Nacht. Und nachdem alle Sitzungen für den Abend Schluß gemacht hatten, kehrte er in die Praxisbüros zurück, die er sich mit Nadia teilte. Sie saßen dann und sprachen mit Nirgal, Sax, Maya und Michel. Danach pflegte Nadia wieder an die Arbeit an ihren Schirmen zurückzukehren und schlief gewöhnlich dort im Sessel ein. Art ging dann oft wieder ins Lagerhaus, um das sich die Häuser und Wagen drängten. Weil sie den Kongreß in der Kuppel eines Lagerhauses abhielten, war es nicht die Party-Szene wie seinerzeit in Dorsa Brevia. Aber auch hier blieben die Delegierten oft auf und saßen auf den Fußböden ihrer Zimmer, tranken und plauderten über die Arbeit des Tages oder die gerade vergangene Revolution. Viele der hier anwesenden waren sich noch nie begegnet und saßen jetzt beieinander, um sich kennenzulernen. Es bildeten sich Beziehungen, Romanzen, Freundschaften und Allianzen. Es war eine gute Zeit zum Reden und mehr über das zu erfahren, was während des Kongresses am Tage vorging. Es war sozusagen die Unterseite des Kongresses, die soziale Stunde, die da in den Betonräumen verteilt war. Art genoß das. Und dann pflegte der Moment zu kommen, da er plötzlich an eine innere Wand stieß, ihn eine Welle von Müdigkeit überkam und er bisweilen nicht einmal mehr die Zeit hatte, in seine Büros zurück zu stolpern zu der Couch dicht bei der von Nadia. Er wälzte sich einfach auf den Boden und schlief dort. Dann erwachte er kalt und steif, eilte ins Bad, duschte, und schleuderte zurück in die Küche, um mit Kaffee und Java den Tag zu beginnen. So ging es immer rund. Seine Tage waren eine verschwommene Hetze. Es war herrlich.