Mein Geschlechtstäschchen, sagte sie laut und kam darüber ins Lächeln, sogar mit rotem Innenfutter.
Was genau war denn im Geschlechtstäschchen drin? Hm? Ein lauer Wind fuhr in ihre dünnen Haare. Sie grübelte mit zusammengezogenen Brauen wie ein Kind, das Fünf und Sieben zusammenzählen muß, während die Hände das Brückengeländer umklammerten und das rechte Bein auf die andere Seite schwang: Ein Hundertmarkschein ist drin, Dummkopf, das mußt du doch wissen, in der kleinen Börse mit dem Druckknopf, der nicht richtig schließt, bißchen Kleingeld, bestimmt ein Fünfmarkstück und paar Zehner, und was ist mit dem Tempotaschentuch, hm? wozu braucht’s denn ein Tempotaschentuch? ein oder zwei Tempotaschentücher, verkrumpelt, mit Rotz drin, hm? nicht schön gefaltet, nicht sauber, ja und was haben wir denn in dem kleinwinzigen Innentäschchen? einen Lippenstift von Chanel, hellrot, der so trocken klackt, wenn man die Haube abzieht, und das Puderdöschen, ös-chen, ös-chen, wieder so ein niedliches Ding mit falschen Brillanten als eingelegte Sterne auf blauem Grund, wenn man’s öffnet, schlägt’s wie ein Schmeichler die Augen auf, das unschuldige Ding, und, ja was denn noch? noch was und noch was, werden wir hier denn nie fertig, der Augenbrauenstift, von dem immer die Kappe herunterrutscht, ein Lippenkonturstift — unten im Verkehr tauchte ein großer, langer gelber Laster auf — und nicht vergessen, ja nicht vergessen, was denn? den Personalausweis natürlich, kleiner Dummkopf, wo hast du bloß deinen Kopf, den Personalausweis hat ein ordentliches Schwabenkind immer dabei, ausgestellt in Heilbronn mit einem Bild, auf dem das Persönchen in Schwarzweiß aussieht, als wär’s bös auf die Welt, aber was, um Gotteswillen, was will jetzt der Spatz auf dem Geländer, der so lustig mit dem Kopf ruckt, der — da war das linke Bein hinübergeschwungen, waren die Hände gelöst, und sie flog auch schon, flog engelgleich –
Wenn immer behauptet wird, in den letzten Sekunden zöge das Leben in rasendem Lauf vorüber, so trifft das in dem Fall nicht zu. Isa dachte an ihren Augenbrauenstift. Nicht an Blumenberg, wie es doch zu erwarten gewesen wäre. Bestimmt hatte sich die Kappe wieder gelöst und der Stift das Innenfutter verschmiert; sie flog und dachte mit aller Gewalt an die Schmiererei, biß die Zähne zusammen, fest, daß vom oberen linken Schneidezahn ein Stück absplitterte. Eine zu vernachlässigende Größe gemessen daran, was alles splitterte und brach, als der Körper auf dem Asphalt aufschlug.
Kurzes Zwischenstück darüber, wo die Zuständigkeit des Erzählers endet
Was weiß ein Erzähler, was weiß er nicht? Ob der Erzähler wirklich wissen kann, was einem Selbstmörder zuletzt in den Sinn kommt, ist fraglich. Natürlich, welche Kleidungsstücke getragen wurden, wie die Verlassenschaft aussah, welchen Anblick die Leiche bot, wie nah- und fernstehende Menschen darauf reagierten, das alles hat der Erzähler bis ins kleinste Detail bei sich vermerkt; er braucht nur geschickt zu wählen, geschickt auszulassen, und er darf dabei nicht allzu streberhaft sein Aufzählungsmaschinchen in Gebrauch nehmen (unter einem Riesenhaufen an Kleinigkeiten wird sonst unmerklich und ohne Gefühlsverhaftung weggestorben). Gesetzt den Fall, all dies sei berücksichtigt und mit dem nötigen Schwung versehen: siehe da, vor den Augen des mitfühlenden Lesers löscht sich ein Buchstabenleben selbst aus.
So ein Selbstmörder tut’s schlüssig, auch wenn er vorher noch ein wenig gezögert, die eine oder andere Hampelei ihn aufgehalten haben sollte, was der Erzähler selbstverständlich auch weiß, weil er ihn ja tage- und wochen-, vielleicht monatelang bei der Vorbereitung des Schlamassels hat beobachten können. Aber was genau der Selbstmörder gedacht hat? Gedankenhetze, Gedankenstillstand im letzten Augenblick? Oder der totale Rückblick, inwärts in Zeitlupe, von außen gesehen als Raffung? Sekunde der Befruchtung der Eizelle? Geburtsschrei, erster Klaps auf den Po? Kehrt, was in der Kümmerlichkeit der Erinnerung nicht geborgen ist, mit Macht zurück? Über das Individualgedächtnis hinaus? Durch alle auf der Erde stattgehabten Formen hindurch bis zur Schöpfungsnanosekunde, damit alles Gewesene innerhalb einer Sekunde imaginativ vernichtet wird und das große Aufzehren alles nimmt, was je in die Existenz eingetragen wurde?
Mit welcher Überlegenheit auch immer der Erzähler vorgibt, Bescheid zu wissen, er fischt hier bloß Luft aus der Luft. Wenn er ehrlich wäre, müßte er passen. Der Fall Isa scheint zunächst klar. Wir haben es mit einer Verliebten zu tun, die sich im Irrealis verfangen hat. Eine riesige erotische Sehnsuchtswolke trägt die schmale Person mit sich herum, geschwellt von unerfüllbaren Wünschen, die bis in den Himmel hinaufsteigen; auf ihr tyrannisches Geheiß springt sie von der Brücke. So weit, so plausibel. Die Verfinsterung treibt und bläht den Menschen, überstäubt ihn mit falschem Zucker, bis kein Genuß in der Wirklichkeit mehr möglich ist. Aber krallt sich die Wirklichkeit nicht jäh an den todbereiten Menschen an, genau in dem Augenblick, in dem es zu spät ist? Wenn eine besonnene Rückkehr nicht mehr möglich ist? Und als was blitzt das Wirkliche auf und strahlt in unwahrscheinlichem Glanz? Kleinklein, als Inhalt eines Krimskramstäschchens? Oder anders, als Spatz, in dessen ruckhaftem Hupf und Köpfchenwenden Heiterkeit und Anmut geborgen sind, daß man sich eigentlich bloß an den Haaren fassen und vergnügt loskichern müßte? (Ironie des Spatzen: hätte sich Isa in die Haare gegriffen, wäre sie aus der Balance geraten, und die Schwerkraft hätte sie ebenso erledigt.)
Dem Erzähler ist jedenfalls die Idee lieb und teuer, daß der Selbstmörder im letzten Moment von der Wirklichkeit verspottet wird, die er so geschmäht und vernachlässigt hat. Wie weggeblasen, all der falsche Zauber. Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen, kehrt sich alles um. Habhaft und stark ist sie, die Lebenswahrheit. Sie lacht den Selbstmörder aus, macht ihn zu einem jämmerlichen Idioten. (Diese Theorie würde der Erzähler natürlich nicht in Anschlag bringen gegenüber Menschen, die sich selbst töten, um der Folter oder der Ausrottung zu entgehen, die sich in einer Lage befinden, in der ihnen die Physis nur noch Qualen bereitet. Auch war ihm die Szene nie lächerlich vorgekommen, in der Sokrates den Giftbecher leert. Aber Sokrates war eben Sokrates, ein in Würde getrockneter alter Mann, der realistisch vermaß, was auf ihn zukam.)
Dem Leser steht naturgemäß frei, zu denken, was er will. Im Fall Isa mag er glauben, sie sei dem Phantom Blumenberg entgegengesprungen und kein einziger Wirklichkeitsschnipsel habe sich mehr zwischeneindrängen können. Bittesehr, dem Leser darf nicht widersprochen werden.
Da hier nun der Erzähler selbst bemüht wurde, soll er gleich noch in anderer Sache vorlaut wirtschaften dürfen, um dann für immer aus dieser Geschichte zu verschwinden: Gerhard. Der uns allen liebgewordene Gerhard, dem wir gewiß ein langes Leben gönnen. Der Erzähler, wieder souveräner Herr über die Zeit und auch ein bißchen der Faktenhuber, den wir bereits kennen, greift jetzt zu einem Enterhaken und holt eine spätere Stunde heran. Um genau zu sein: Stunde, die sich ereignet hat fünfzehn Jahre, sieben Monate und vier Tage nach jenem fatalen Sonntag im Mai.
Gerhard konnte damals, 1982, natürlich nicht wissen, daß ihm als einem der wenigen Schüler Blumenbergs ein wissenschaftlicher Aufstieg beschieden sein würde, der ohne größere Aufregungen und Widerstände gemächlich verlaufen sollte. Baur machte einfach weiter wie bisher, machte sich wenig Feinde und erwarb sich, wo immer er auftrat, Respekt oder zumindest Sympathie. Gottlob ahnte er damals nicht, daß in ihm das Schicksal seiner früh verstorbenen Eltern als rasanter Taktgeber tickte, eine böse Zeituhr, durch die seine vielversprechend anlaufende Karriere ein jähes Ende fand.