Von nahem betrachtet war auch das arme, gewöhnliche Kairo spektakulär. Noch im Hotel gelangten sie in die Obhut eines gebildeten Reiseführers, der exzellent Englisch sprach und ihnen rasch ans Herz wuchs, Hassan, der sie die ganzen Monate über begleitete. Diesen Führer hatte der Freund durch seine geschäftlichen Verbindungen in alle Welt im vorhinein ausgewählt und sich verpflichtet. Hassan war ein blitzgescheiter junger Mann aus wohlhabender Familie. Gekleidet in seine weiße Galabiya, führte er sie mitten ins Gewimmel der Stadt, ein labyrinthisches Gewirr, in dem jeder Fleck ausgenutzt und besetzt war von Handeltreibenden, von Ecken- und Türstehern, die auf einen kleinen Auftrag warteten, von Leuten, die herumsaßen und schwatzten oder ihre Schafe durch die Straßen trieben. Ein Gerber hockte vor einem Bottich und schabte ein Hammelfell glatt. An Budenbesitzern schritten Wüstenkamele im Schaukelgang vorüber. Eines war geschmückt, als ginge es auf seine eigene Hochzeit, mit Troddeln und Behängen; sogar blitzende Goldstücke waren in die Stirnriemen geflochten. Französische Stadthäuser, die einen Pariser Boulevard hätten säumen können, wechselten mit orientalischen Gebäuden und ihren weit die Straßen überwölbenden Gittervorsprüngen ab. Dazwischen Neubauten im mediterranen Bauhausstil und Hütten, die schier zusammenfielen. Die Bars und Cafés waren erregend. Vollgepackt mit diskutierenden jungen Männern und älteren Wasserpfeifenrauchern, dazwischen stark geschminkte Frauen in engen, westlichen Kostümen.
Ihre eigenen Frauen hatten sich für die Ägyptenfahrt eine Wüstengarderobe schneidern lassen, bunte Kleider, die sie in Deutschland niemals getragen hätten, auch bequeme Shorts, die knapp über den Knien endigten, und Blusen aus hauchdünner Baumwolle. Auf ihren Köpfen saßen Hüte mit extrabreiter Krempe, die sie vor der Sonne schützten. Seine Kleidung war konventioneller. Während der Stadtgänge trug er einen leichten, hellen Leinenanzug und einen eleganten Strohhut auf dem Kopf.
An den Schwatzzwang der Ägypter mußte er sich gewöhnen. Wo sie gingen und standen, produzierten sie Aufläufe, nur um laut zu schwatzen und mit den Händen zu wedeln. Anfangs wurde ihm das zuviel. Auch das aufdringliche Bakschisch! Bakschisch! besonders der Kinder ging ihm auf die Nerven. Das Jackenzupfen, Händehinstrecken. Er war bestrebt, sich die Leute vom Leib zu halten. Der Hang zu Kitsch und Opulenz, die schweren Parfümfahnen, die besonders die Frauen aus den höheren Klassen hinter sich herschleppten, machten ihm zu schaffen.
Dann hatte es gefunkt. Ihre quicklebendige Art hatte seinen Widerstand überrannt. Mit einem Mal genoß er es, sie zu beobachten. Und manchmal wurden die Nachwirkungen des Josephromans übergroß, etwa wenn er auf der Lauer lag, in der Empfangsdame des Hotels, in der einen oder anderen Gattin an der Seite eines wohlhabenden Staatsbeamten Potiphars Weib zu entdecken. Selbst auf dem Sofa wirkte das Vergnügen nach, so daß er sich wieder auf die rechte Seite warf. Die Ägypter waren als Schauspieler zur Welt gekommen. Ein üppiges Gestentheater führten sie voreinander auf mit hoch nach oben und wieder abwärts segelnden Stimmen. Ihre großäugigen Nasengesichter verströmten Gutmütigkeit; ihre Gesten, die oft die Handflächen wie in Spendierlaune frei darboten, erweckten Sympathie.
Dank Hassan, der schnell begriff, daß er nicht die üblichen Reisenden vor sich hatte, die sich nur für Pyramiden und Pharaonengräber interessierten, landeten sie im Kino, in einem Film von Youssef Chahine, und anschließend in einem griechischen Club, wo heiß über die Vorführung diskutiert wurde. Ein Schwarzweißfilm im Stil des italienischen Neorealismus, mit vielen Laiendarstellern, die allesamt begnadete Komödianten waren. Der Film war eine kleine Offenbarung und konnte sich locker mit den besten Filmen messen, die er je gesehen hatte. Natürlich entging ihm viel von der Handlung. Er wußte nur noch: es begann im Bahnhof, und ein schalkhafter, weltweiser Kioskbesitzer geriet augenblicks in erzkomische Verwicklungen.
Hassan führte sie durch labyrinthische Hinterhöfe zu einem alten hölzernen Derwischtheater, einem kleinen Rundbau mit Lukarnen, innen mit fein geschnitzten Gittern versehen, um die Frauen von den Männern abzuschirmen. Davor saß ein alter Wächter inmitten einer Schar Katzen und erzählte ihnen Katzengeschichten, von denen Hassan Bruchstücke übersetzte, wobei der Alte auf jedes einzelne Tier deutete und nachahmte, wie es miaute, fauchte oder sich würdevoll trollte. Wie überraschte ihn der Freund, der sich ohne Scheu neben dem Wächter auf der Steinstufe niederließ und stochernd einige arabische Sätze an ihm ausprobierte, die der Alte lachend, mit weit aufgerissenem Mund, in dem nur noch wenige Einzelzähne staken, quittierte.
Matterhorn: der Name genügte zwischen ihnen als Witz. Wurde es vor den Pyramiden so heiß, daß jede Bewegung zur Strapaze wurde und sie am liebsten in Badewannen mit kaltem Wasser gesunken wären, hielten sie sich mit Matterhorn-Witzen bei Laune. In der prallen Sonne stellten sie sich in Positur wie zu einem Gruppenphoto auf dem Schneegipfel, schlugen mit den Armen um sich, als bedürften sie der Wärme, beschirmten ihre Augen mit den Händen und schauten in die Gegend, gerade so, als wären sie von hohen Bergen umringt und es wehte ein eiskalter Wind.
Der Nil, immer wieder der Nil. Zu Recht besungen und beschworen. Bei der Nilfahrt auf einem alten Raddampfer wartete jeden Abend eine Überraschung in ihrer Kabine. Der Steward, der sie betreute, legte Pyjama und Nachthemd mit geschickten Kniffen so zurecht, daß sie auf ihren Betten von tierähnlichen Gebilden empfangen wurden — einem Schwan, einer Schlange, einem Krokodil. Der Steward nahm ihr Lob in einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz entgegen, wobei er, angestachelt durch ihren Zuspruch, sich an immer kompliziertere Formen wagte.
Man sah vom Schiff aus, wie dünn der schmale grüne Streifen entlang des Flußlaufs war, wo sich alles Leben und die gesamte Landwirtschaft zusammendrängten. Wasserbüffel standen in den Feldern. Ibisse stelzten herum. Gut vorstellbar, daß in Ufernähe Krokodile lauerten. Hinter den Hügeln begannen bereits die Sanddünen, eine weite Wüstenlandschaft, spärlich bevölkert allenfalls von durchziehenden Nomaden. Immer wieder war ihr Schiff von Nußschalen umringt, in denen sich Kinder tummelten, die kreischten und ins Wasser sprangen und den Passagieren zuwinkten wie verrückt.
Wie viele Monumente sie besichtigt hatten! Fünfzig? Hundert? Er brachte sie gar nicht mehr alle zusammen. Natürlich waren sie im Tal der Könige gewesen und in die bunt bemalten Grüfte hinabgestiegen, natürlich hatten sie die Tempel von Theben und Karnak besichtigt, und weit im Süden Abu Simbel, den Felsenpalast, der damals an seinem angestammten Platz stand und noch nicht des neuen Staudamms wegen versetzt worden war, auch die Tempel auf der Insel Elephantine und viele andere mehr. Ihm waren die Kolossalstatuen an den Eingängen unheimlich erschienen, zu abweisend, zu groß, zu glatt. Doch in ihrer Gesamtheit waren sie erhaben, eine Totentrotzkultur im Wüstenstaub, mit majestätischen Hauben und Bärten. Die mit den heutigen Ägyptern, wie sie in Kairo durcheinanderwuselten, schwer in Verbindung zu bringen war. Das vergangene Ägypten blickte unbeteiligt auf das gegenwärtige herab. Seine Anstrengungen, dem Absolutismus der Wirklichkeit zu entkommen, waren immens gewesen, mit nichts zu vergleichen. Wertsteigerung des Zieles, dem Tod das Leben abzutrotzen, durch enorme Erschwernis seines baulichen Vollzuges. Von den heutigen Landesbewohnern und den auswärtigen Besuchern konnten solche Kraftakte zur Daseinssteigerung nicht mehr erfaßt werden. In Bröckchen schwebten einige Zeilen von Edna St. Vincent Millay heran — The kings of Egypt; even as long ago — with long eye and scented limbs they slept, and feared no foe — Their will was law; their will was not to die: And so they had their way; or nearly so.