Er liebte dieses or nearly so. Für immer, aber eben doch nur beinahe. Perfekt, beinahe perfekt waren die Totenbarken mit den darübergebreiteten Schwingen. Sie hatten sich ihm eingeprägt wie kaum etwas sonst. Einzigartig, mit Hilfe einer Barke ins Reich der Toten zu gelangen, ein Narrativ von hoher Bildlichkeit und ein plausibles Wunschgebilde obendrein. Poesie und Schrecken schwebten über dem Tod; das Geleit der Barken milderte den Schrecken zu sanfter Bedeutsamkeit.
Und dennoch. Nicht nur einmal hatte ihn der Gedanke überfallen, daß es ein Fehler gewesen war, nach Ägypten zu fahren, in diese graurötliche Ödnis, die sich bis zum Horizont erstreckte. Er hätte in Brügge umkehren sollen. Letztlich war er doch ein Nesthocker, der sich lieber die Welt in seine Klause holte und in leuchtenden Gedankenbildern vergegenwärtigte, als sich dem Treiben auszusetzen und sich ratlos in ihm zu verlieren, sei, was er zu sehen bekam, auf den ersten Blick auch noch so aufregend. Auf die Dauer machte es ihm zu schaffen, immer in Gesellschaft zu sein und kaum eine Stunde allein, in abgeschirmter Umgebung, für sich nutzen zu können.
Frivol waren die schreibenden Affen an den Wänden der Grabkammern, die wie Steuereinnehmer auf ihren Hintern saßen, eine willkommene Abwechslung vom durchherrschenden Ernst der Alten Reiche. An tausenderlei ernsten Figuren mit seitwärts gestellten Beinen war er vorbeigewandert, sie zeigten ihre Gerätschaften her oder saßen statuarisch mit hoch aufragenden Kopfbedeckungen da und nahmen etwas in Empfang, die Arme meist leicht erhoben im Zeigegestus. Im Innersten blieben ihm diese Figuren fremd. Nur die Portraitbüsten Echnatons im Museum von Kairo, die so auffallend anders waren, hatten ihn magisch angezogen. Der extrem gedehnte Schädel, die langgezogene Nase, der elegant gewellte Mund des sonderbaren Königs schwebten ihm vor Augen. Das Riesenmuseum war kurios, eine Mischung aus Pomp und Besenkammer. Skarabäenhaufen. Amuletthalden. Öffnete man irgendwo eine Tür, stürzten einem bandagierte Mumien entgegen. Und über all dem Gewimmel und dem ruinösen Chaos immer wieder der sonderbar lächelnde König. Sein melancholisches Flair trug ihn weit und immer weiter fort.
Und während er sich in seinem Sofa verlor, saß er wieder auf der Terrasse des Katarakt-Hotels in Assuan und sah auf den Nil, sah auf den rotgoldenen Himmel, der alles flammend übergoß, während das gegenüberliegende Ufer schwarz erschien, doch allmählich färbte sich der Himmel anders ein, wie zum Ende ihrer Reise, als sich zur Unzeit der Chamsin erhob, Wüstensand in die Atmosphäre schleudernd; hoch droben kreiselte er zunächst in braungelben Schlieren, ein knochentrockener, böser, kristallscharfer Wind, der gottlob nicht im Freien über sie kam — sie waren in Sicherheit und konnten zusehen, wie er niederging und Sandkörner gegen die Scheiben des Katarakt-Hotels fegte, die sich auf den Fensterbänken als Haufen und im Garten als kleine Dünen ablagerten, und zu viert standen sie am Fenster und sahen in diesen irrsinnigen Himmel, von dem sich lauter rieselnde gelbe Körner lösten, die ihn allmählich in den Schlaf strudelten — sie bedeckten Ägypten, sie bedeckten Altenberge, sie bedeckten ihn, und nur der Kopf der Sphinx mit der abgeschlagenen Nase ragte noch daraus hervor, doch als die Sphinx zu sprechen anfing mit ihrer hohltönenden, fast dreitausendjährigen Stimme, war er schon halb in den Schlaf geglitten und beschäftigte sich mit den Pythagoreern, die sich gegen ein orientalisch influiertes Verfließen des rationalen Tonsystems verwahrt hatten und der Hyle, der Geräuschmaterie, die zwischen den durch ganzzahlige Proportionen der Saitenlängen bestimmten Tönen lag, keine Bedeutung zumaßen, während es in der Moderne gerade darauf ankam, das Zwischenreich der nicht durch Zahlen definierbaren Töne zu erforschen und zu erlauschen, doch als sich in die Hyle die Zwingworte der Sphinx mengten, war er eingeschlafen und konnte sich tags darauf an nichts mehr erinnern.
Fragwürdiger Engelbescheid
Vollbremsung. Tohuwabohu, ein Wunder, daß nicht gleich mehrere Fahrzeuge ineinanderkrachten. Polizei und Notdienst waren rasch zur Stelle. Was die Sanitäter an blutigen Kleidungsresten, Fleisch, zermalmten Knochen vom Asphalt kratzten, war nicht mehr als Person zu erkennen. Der Lastwagen der Firma Zapf war mit mehreren Rädern darüber gerollt, hatte Teile mitgeschleppt, bis er hinter der Brücke zum Stehen gekommen war. Der Familie, falls es eine gab, würde der Anblick dieser Reste nicht zuzumuten sein. Dennoch ließ sich die Person, um die es sich wahrscheinlich handelte, identifizieren.
Polizisten fanden ein weißes Täschchen im Korb des auf der Brücke abgestellten Fahrrades, per Reißverschluß zu öffnen, mit hundertundsechs Mark und vierzig Pfennigen darin, einem Lippenstift, Krimskrams, einem Tampon, keinem Schlüssel, aber einem Personalausweis mit der Nummer 255431800, gültig bis 18. 3. 1984, ausgestellt auf den Namen Elisabeth Kurz, wohnhaft 7100 Heilbronn, Am Schafberg.
Fahrer und Beifahrer des Lastwagens saßen im VW-Bus der Polizei, eine Beamtin und ihr Kollege ihnen gegenüber. Alle waren naß, im Wagen herrschte eine feuchtklamme Atmosphäre. Der Regen trommelte noch immer aufs Dach.
Weiß wie ein Engel, murmelte der Fahrer vor sich hin. Er schwitzte stark, hielt die Hände gefaltet, sie fuhren ihm auseinander, er wischte sich über die Stirn, faltete sie wieder. Er war zu keiner zusammenhängenden Aussage fähig. Ein drahtiger Bursche mit Zopf, den so leicht nichts erschüttern konnte. Jetzt zitterte ihm das rechte Bein. Ohne Vorwarnung, von oben, nicht einfach auf der Straße. Von oben, sagte er immer wieder und wiegte dabei den schweißüberglänzten Kopf hin und her. Was Weißes.
Seine Augen huschten von einem zum andern. Auf die Motorhaube, zuerst auf die Haube? fragte er ratlos in die Runde.
Nein, direkt vor die Räder, nich’ auf die Haube. Sonst wär’ sie ja weggeschleudert worden. Sein Kollege Harry, eine Wollmütze tief in die Stirn gezogen, unter der blonde Locken hervorquollen, saß eher ruhig da und starrte auf den Tisch. Er mahlte mit dem Kiefer und war bemüht, ja nichts zu sagen, was falsch hätte ausgelegt werden können.
Dann rechts unten, der Rumpser, rrrumps, voll in die Bremse reingetreten, rrrumps, rrrumps, rrumps –
Volle Kanne reingetreten, das könne er bezeugen –
Was, sie sollten ihm doch bitte sagen was, was hätte er denn tun sollen? Von oben kam’s, damit rechnet doch kein Mensch.
Kein Mensch nich’ rechnet mit so was.
Sie glauben mir nicht? rief der Fahrer verzweifelt.
Doch, sie glaubten ihm, nichts sprach dafür, daß er log, aber er konnte nicht glauben, daß sie ihm aufs Wort glaubten, es war ja alles so unwahrscheinlich. Von oben!
Dann Krach hinten im Wagen, so’n Gepolter. Ladung verrutscht, so stockvoll is’ mein Kollege auf die Bremse getreten. Is’ keinen Millimeter ausgeschert. Hätt’ auch gar nicht ausweichen können, war ja voll auf der anderen Spur. Hat eins A gehalten. Müssen mal schauen, was die Ladung macht.
Die Beamtin hielt inne. Der Kugelschreiber, mit dem sie die Vernehmung protokolliert hatte, gab den Geist auf. Harry griff in seine Brusttasche und reichte ihr einen anderen, einen gelben, mit hellblau aufgedrucktem Firmenlogo der Firma Zapf. Der schrieb zunächst auch nicht, mußte angehaucht werden, was Harry fachmännisch übernahm, indem er noch ein Zettelchen aus der Tasche grub und darauf probeweise herumkritzelte.
Nein, sie waren weder betrunken noch übermüdet, ihre Tour hatte ja gerade erst begonnen. Und der Fahrer hatte keinen einzigen Eintrag in Flensburg, war noch nie in einen Unfall verwickelt gewesen. In Lüdenscheid hatten sie den Laster übernommen, fertig beladen mit Möbeln und Bücherkisten eines Lehrerehepaars, die hießen Blessing, Be El E Es Es I En Ge, das war leicht zu überprüfen. Das Paar war in Rente gegangen und zog an den Dollart, und nun wollten sie in Münster Halt machen und noch was dazu packen.