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Gerhard schien nicht versessen darauf, mit den unappetitlichen Details der Chose genauer bekannt zu werden. Tatsache, er lachte, als Richard die Firma Zapf erwähnte. Die Zapfisten waren tapfere Kerle, landauf, landab beliebt bei den Studenten, und jetzt hatte der Teufel es gewollt, daß die gute Isa, das Knopfmädel aus Heilbronn, von ihnen erledigt worden war.

Der Abend zog sich hin. Richard trank viel, Wodka und Bier, ihm war es längst zur Gewohnheit geworden, nachts mit Alkohol in die Zielgerade einzubiegen. Gerhard war ein bescheidener Trinker, aber heute langte er für seine Verhältnisse ziemlich zu. Der Höhepunkt kam, als Hansi Bitzer, das Gedichtmonster, den Laden betrat. Richard konnte ihn nicht riechen und verschanzte sich grantig hinter seinem Bier. Hansi steuerte auf ihren Tisch zu und baute sich vor Gerhard auf; Richard hätte ihn am liebsten erwürgt. Aus dem Lautsprecher tönte In The Air Tonight von Phil Collins, was Hansi aber nicht davon abhielt, sein verfluchtes Blatt auszupacken, eins dieser in durchsichtiges Plastik gehüllten Wichsblätter, das er aus seiner Akkordeonmappe zog, um mitten in das ätherische Halligalli von Collins und das allgemeine Schwatzgelärme hinein loszulegen, Gerhard direkt in die Ohren, nur für ihn loszukrächzen, loszuschnarren, und zwar mit –

Wohlan! so bin ich deiner los

Du freches, lüderliches Weib!

Fluch über deinen sündenvollen Schoß,

Fluch über deinen feilen geilen Leib,

Fluch über deine lüderlichen Brüste

Von Zucht und Wahrheit leer,

Von Schand und Lügen schwer,

Ein schmutzig Kissen aller eklen Lüste…

Jesusmariaundjosef! Das ging endlos so weiter, endlos, endlos. Eine Strafpredigt? Auf den armen Gerhard gemünzt, um ihn durch Zorn und Verachtung über seinen Verlust hinwegzutrösten? Gerhard hörte jedenfalls aufmerksam zu, kein Muskel in seinem Gesicht verriet, was er dachte. Nachdem Hansi geendigt hatte, langte er etwas zeremoniell nach seiner Brieftasche, holte einen glatten Zehner heraus, faltete ihn zweimal und legte ihn in Hansis Blechnapf. Hansi ließ es bei einer knappen Verbeugung bewenden, drehte sich um und ging, ohne einen Blick an Dietmar Schönherr zu verschwenden, hinaus.

Was erlaubt der sich eigentlich?

Richard sah sich in der Pflicht, seinen Freund im nachhinein zu beschützen, aber da kannte er seinen Gerhard, den lieben, guten alten Gerhard, schlecht: Schneidst du den Hals dir ab, Und springst du in die Spree, Du findest nie ein Grab, Die Spreu schwimmt in der Höh, zitierte der fröhlich glucksend, das hat doch Klasse, das ist die ganz, ganz große, die übergroße Gewichtsklasse, Schwergewichtgedichtklasse — er kam ins Kichern und verschluckte etwas vom Bier —, so was traut sich doch heute keiner mehr von unseren saftlosen kreuzbraven Dichtersäcken. Rühmkorf etwa? Häh? Gernhardt?!

Richard mußte grinsen, aber er blieb besorgt und beschloß, seinen Freund während der Nacht nicht aus den Augen zu lassen. Der Grund, weshalb er sich mit ihm verabredet hatte, kam gar nicht zur Sprache. Richard wollte zwei Semester sausen lassen und auf große Fahrt gehen, nach Südamerika.

Heilbronn

Die Eltern erfuhren es von einem Heilbronner Beamten, der noch am selben Abend vor ihrer Haustür stand. Sie wollten es nicht glauben, wollten Beweise, riefen verzweifelt in der Wohnung ihrer Tochter an, bekamen aber nur die schluchzende Biggi an den Apparat, versteinten.

Lange konnten sie sich nicht aus der Erstarrung lösen. Außen kalt. Innen heiß. In ihren Köpfen raste es. Immer wieder tauchte darin der süße Fratz auf, das Spatzl. Sie hatten schon mit viel Bösem gerechnet, damit nicht. Wie? Ihre Kleine, der sie doch alles gegeben hatten, was Eltern einem Kind geben konnten, machte so was? Hatte sie das getan, um die Eltern zu vernichten? Aber was für eine Schuld hatten sie auf sich geladen, daß sie eine so fürchterliche Quittung verdient hatten? War Elisabeth im Drogenrausch gewesen? Das war doch nicht ihr Kind, wie sie es kannten. Vielleicht waren sie zu wenig streng mit dem Kind gewesen, die beiden Buben hatten sie strenger gehalten, aber deswegen brachte man sich doch nicht um, noch dazu auf eine so fürchterliche Weise, an die zu denken sie sich weigerten, ausgerechnet ihre Jüngste, so ein lustiger, kluger Wildfang, dem alles leichtfiel, der Kindergarten, die Schule, sogar die Tanzstunde, und das war ja weißgott für jeden jungen Menschen ein Krampf, und die Universität doch erst recht. Selbst in der Pubertät hatte ihr Spatzl niedlich ausgesehen, nicht pickelübersät wie die beiden anderen Kinder. Und sie durfte alles machen, was sie wollte, sie hatten ihr niemals dreingeredet, welches Fach sie studieren sollte. Philosophie, das klang interessant, wenn sie auch nicht recht wußten, wozu so ein Studium gut sein sollte, wenn Elisabeth es so wollte, in Ordnung, dann sollte sie ihren Willen haben. Wo kam das bloß her? Ihre Ehe war doch nicht schlecht, sie hatten die Kinder nie mit Problemen belästigt, die sie selber hatten. Kam das von Onkel Willi? Aber Willi war im Krieg gewesen und hatte sich danach nicht mehr zurechtgefunden, das war doch ein Kriegsschaden. Woher also, woher?

Die Beerdigung fand zehn Tage später auf dem Heilbronner Hauptfriedhof statt. Der evangelische Pfarrer machte seine Sache gut, obwohl da nichts gutzumachen war. Man merkte seiner Stimme an, daß er selbst ratlos war. Er hatte Elisabeth im Konfirmandenunterricht gehabt und erinnerte sich genau an das Mädchen; schlau war sie gewesen, unberechenbar, lebhaft, dabei ziemlich ernst für so ein junges Ding. Konnte ungemütliche Fragen stellen, die direkt ins dornige Dickicht der theologischen Logik zielten. Dem Pfarrer blieb nichts anderes übrig, als ihren Tod als Rätsel stehenzulassen und keinen allzu salbenden Nachdruck auf seine Verse voll Barmherzigkeit zu legen. Kaum möglich, den Eltern etwas von ihrer Last zu nehmen. Steif wie zwei Kerzen, eine lange, eine kurze, saßen sie in der ersten Reihe.

Gerhard hatte sich dem Trauerzug hinten angeschlossen. Den braunen Sarg, der von den schwarzuniformierten Trägern etwas schief gehalten wurde, die mitgeschleppten Kränze — was er sah, konnte er nicht mit Isa in Verbindung bringen. Wie wenig das, was da drin liegen mochte, Isa glich. Sie war definitiv nicht in den freundbesiedelten Schlaf geglitten. Kurzen Prozeß hatte sie gemacht, Puppe kaputt. Doppelt und dreifach.

Es war nicht so, als wäre die Liebe seines Lebens dahingegangen und er müßte nun in Trauer vergehen. Isa war ihm auf einen Schlag fremd geworden, abschreckend fremd. Er war gefoppt worden von einem grausamen Geist, der sich als junges Mädchen verkleidet hatte. Er fühlte einen schrecklichen Durst. Es überfiel ihn ein Husten, der ihm das Wasser aus den Augen trieb. Runzliges Äffchengesicht, vom Jackenärmel trockengewischt, zerfurcht die glatten Wangen, die glatte Stirn. Isa oder das, was von ihr noch da war, sah ihm dabei zu. Isas Meerwasseraugen schauten das Äffchen mitleidig an. Eine düstere Verzückung breitete sich in ihm aus. Er fuhr mit der Hand über einen Buchsbaum und kniff ein Blatt ab. Emsige Spatzen darunter, pick, pick, pick. Zwei dicke mit Kinderflaum vor der Brust. Seelchen, die schneller sterben, als sie schlüpfen. Isas Patschhände kamen ihm in den Sinn — stets bereit, sich zurückzuziehen. Doch, sie war’s, die Liebe seines Lebens, Springsteens Suicide Machine. Sie saß ihm in den Knochen. Bereitwilliges Kußgeflatter in seinem Kopf, ein Lechzen ohne Sinn und Zweck. Er wünschte sich in das verfluchte Eisenbett zurück. Aber vielleicht war es besser, wenn eine derart herrschsüchtige Liebe rabiat aus den Knochen vertrieben wurde. Man sollte gut, gewissenhaft, vernünftig lieben, den kleinen Frieden, das kleine Glück suchen. Er würde nicht ewig in seinem Leid schmoren. Er war lebendig, und die Toten lagen stumm in ihren Gräbern oder standen im Durchgang Richtung Nirgendwo.