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Er bestritt die Nacht und abermals die Nacht mit Lesen, Karteikarten-Anlegen und Diktieren. Um ihn her war es wieder ruhiger geworden. Er hatte zum gewohnten Maß, sogar zu einem Übermaß an Arbeit zurückgefunden. Der Löwe war ihm inzwischen unentbehrlich geworden. Umgekehrt schien der Löwe sich auch an ihn gewöhnt zu haben. Wie ein alter Haushund schlief er entspannt auf dem Teppich und hob nur selten den Kopf, um die Lage zu überprüfen. Er war auch nicht von Auszehrung befallen, wurde nicht zu Haut und Knochen. Alt zwar, aber sonst wie eh und je.

Heute war Vollmond. Sein von der Sonne geborgtes Licht besorgte eine sanfte Überglänzung von Büschen und Bäumen. Wenn Blumenberg aus dem Fenster sah, begann, ganz wie Schopenhauer es formuliert hatte, sein Wille aus dem Bewußtsein zu schwinden und eine Ruhe des Herzens einzutreten, die sonst schwer zu erlangen war. Das milde Mondlicht war schön, weil der Mond den Menschen nichts angeht. Wurde ihm zugetraut, das Weltauge eines Gottes zu sein, so blickte dieses Auge nachsichtig und gleichgültig auf die Erde herab.

Wenn er den Mond sah, kamen ihm unweigerlich die berühmten Verse von Matthias Claudius in den Sinn, er summte sie im Inneren zu den sich automatisch einstellenden Wörtern mit, besonders liebte er:

Der Wald steht schwarz und schweiget

Und aus den Wiesen steiget

Der weiße Nebel wunderbar.

Der Mond, der schwarze, schweigende Wald wurden in die menschliche Lebenswelt gezogen, durch die Kraft der Metapher konnten sie darin mit hoher Intensität Wurzeln schlagen, sich sinngebend einwohnen, gleichgültig, ob ein Mensch je im schwarzen Wald herumgeirrt war oder nicht. Die zweite Strophe von Claudius’ Lied war auf ihn gemünzt, sie war seine ureigene Strophe, sie umfaßte sein Gehäusleben, wiewohl das in ihr beschworene Verschlafen sich in der Regel nicht einstellen wollte:

Wie ist die Welt so stille

Und in der Dämmrung Hülle

So traulich und so hold.

Als eine stille Kammer,

Wo ihr des Tages Jammer

Verschlafen und vergessen sollt.

Und doch. Und doch. Sobald er sich vom Fenster abwandte, mußte Blumenberg zugeben, daß er in seinem Zimmer unter einem wirksameren Einfluß stand als dem des Mondes, einem gewaltigen sogar, der ihn aus einer Welt zog, in welcher Erfahrungstatsachen galten, durchdrungen und erfaßt von logischem Denken. Umformung der Materie in die reine Erscheinung unter Wegziehung aller Substanzen, die gemeinhin zur Materie gehörten, gab es das? Konnte es so etwas überhaupt geben? Manchmal überkam ihn das Mißtrauen, daß all die Worte, die er Nacht für Nacht auf die geduldig fortrückenden Bänder der Stenorette sprach, tote Worte waren, tot, tot, tot, weil sie für das Wesen auf dem Teppich nicht galten.

Er liebte seinen Löwen. Nicht viel anders, als ein Kind seinen Hund liebt. Ihm kam das zauberhafte Photo von Glenn Gould in den Sinn, als schöner Jüngling mit seinem schwarzweiß gefleckten Hund am Flügel sitzend, ein ebenfalls schöner Hund, der die Pfoten neben den Fingern des Pianisten auf den Tasten hat und konzentriert in die aufgeschlagenen Noten blickt. Die beiden erweckten den Eindruck, als spielten sie zusammen, ja, als würde Glenn Gould überhaupt nur gelingen, was ihm gelang, weil der Hund mittat.

Sein Löwe war weniger gutmütig und weniger possenhaft veranlagt, dafür ein mächtiger Beschützer. Eine Traumgeburt von so unbedingter Präsenz, daß er an ihre Flanke gelehnt für immer in den endgültigen Schlaf hätte gleiten mögen.

Aber nein. Kein Traum. Der Löwe war am Ende ein so freies und unbedingtes Wesen, daß ihm das Recht, zu sein, was er ausdrückte zu sein, nicht streitig gemacht werden konnte. Die Seinszufriedenheit drang in selbstleuchtender Projektion aus seinem schon etwas fadenscheinig gewordenen Löwenkostüm hervor; es hatte keinen Sinn, das, was auf dem Teppich sich zeigte, mit immer neuen Zweifeln zu berennen. Der große Einfädler und Knotenwirrer hatte — wenn es IHN denn gab, ewig und unvernommen, aber im Geheimen wirksam — in dieser sagenhaft löwenähnlichen, von einem wirklichen Löwen vielleicht nur durch die Handprobe zu unterscheidenden Chimäre einen ganz besonderen Prachtknoten geschürzt. Erfreue dich an ihm, hieß die Devise, schicke dich drein und genieße den Kraftstrom, der sich zu deinen Füßen erhebt und dich umhüllt.

Der Handprobe hatte sich Blumenberg nach wie vor enthalten. Zartdünne Berührpunkte existierten zwischen ihm und dem Löwen auch so. Ohne seine Einbildungskraft sonderlich anzustrengen, spürte er das Fell des Löwen an seiner Wange, spürte er die Tatze des Löwen auf seiner Schulter. Fühlte er solchen Kontakt, war er dem Zwang zur radikalen Selbstverfügung enthoben. Von der Enthärtung der physischen Wirklichkeit bei unverwandt in die Erscheinung hineinblühendem Sein ging etwas zutiefst Beruhigendes aus. Nicht, daß er für gar nichts mehr verantwortlich gemacht werden konnte, aber was ihm auferlegt worden war, wog nun leicht, flaumleicht wie die Brustdecke eines Spatzenkindes.

Obwohl — manchmal, wenn er in Gedanken war und vom Tisch aufsah, erschrak er fast wie beim ersten Mal. Die Ungeheuerlichkeit des Löwen kehrte dann mit voller Wucht zurück. Ein Löwe! Ein Wunder! Ein Löwe! Zwar beruhigte sich sein Herz schnell, aber seine Gedanken gerieten ins Trudeln, und ein Gefühl, das zwischen Angst und Entzücken hin- und herschwankte, ließ ihn mit leicht gerunzelter Stirn nach oben schauen, wo sich allerdings nur die Decke befand und keine Himmelsschneise. Ob vielleicht doch alles, was er schrieb und dachte, von oben beäugt, kommentiert, überwacht wurde? Ob über ihm als Nachtwächter eine andere Nacht Wache hielt, mit durchdringender Intelligenz begabt, die ihm den Löwen zu Ermunterungszwecken geschickt hatte, vielleicht aber auch, damit endlich klarer, rücksichtsloser, entschiedener geschrieben wurde, damit er Risiken einging und sein Äußerstes zu Papier brachte?

In solchen Momenten sah er sich selbst die Peitsche schwingen und eine Schar Theologen vor sich hertreiben. Ihm wuchs ein Löwengebiß. Das Isaakopfer! Harrrrrrr! Gott hatte das Opfer nicht als Warnung für den Menschen, damit er sich von solchem Opfer abkehre, von seinen Banden erlöst, nein, nicht zu menschlichen Sittigungszwecken mußte der Widder als Stellvertreter herhalten, ER hatte das Isaakopfer vielmehr verschmäht, weil es zu gering war. Isaak, der kleine Wicht, der unbedeutende Sohn, viel zu unbedeutend für ein Gottesopfer. ER hatte auf das größere Opfer geharrt, ja, nach ihm gelechzt, ER hatte es auf das Opfer des eigenen Sohnes abgesehen! Aber warum? Um dem göttlichen Gemütsallerlei, das bisher allenfalls den Zorn und den Eifer kannte, den Schmerz hinzuzufügen, um selbst ins Leiden zu geraten und so etwas wie Vaterschmerz zu fühlen? Ihm kam die Alabaster-Trinität von Hans Multscher in den Sinn, das Gottvatergesicht entsetzt, entsetzt über das Angerichtete.

Oder: wenn in der Passion der Barabbas-Ruf ertönte, so hieß das auf aramäisch nichts anderes als Bar-Abbas, Sohn des Vaters, und damit hätten die Juden Jesus, ihren König, aus den Händen des Pilatus zurückverlangt und ihm die Treue gehalten. Entgegengesetzt zu der verhängnisvollen Deutung, die darin den Ruf nach Freilösung eines Verbrechers gehört haben wollte.

Wenn ihn solche Gedanken überkamen, fühlte er, wie das Blut frisch durch seine Adern strömte; alles in ihm kribbelte und zirkulierte auf Teufel komm raus. Es hielt ihn dann kaum auf seinem Stuhl, er mußte im Zimmer herumwandern oder sich für eine Weile an das Stehpult stellen und Kniebeugen machen, allerdings im gehörigen Abstand zum Löwen, wodurch der Bewegungsspielraum ziemlich eingeschränkt war, Löwe, der bei solchen Manövern immerhin den Kopf hob und ihn — es kam ihm jedenfalls so vor — leicht besorgt — oder war es eher ironisch? — aus verwunderten Löwenaugen ansah. Ein, zwei Mal war es sogar schon vorgekommen, daß er sich selbst Krallen und Tatzen statt Hände und Fingernägel an den muskelgeschwellten, fellbezogenen Leib gewünscht hatte, um sich mit dem Löwen eine Mordsbalgerei zu liefern. Himmlisch, mit einem Löwen zu brüllen und zu röhren und spielerisch das Gebiß in seine Flanke zu schlagen; es zuckten ihm förmlich die Hände, um das Krallenwachstum hervorzulocken. Ein wenig fellhaft war er ja selbst; wenn er auf seine zierlichen Hände blickte und dann auf die Haare, die unter den zurückgeschobenen Strickbünden hervorquollen, kam er sich löwennah vor.