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Und noch eins hatte der Löwe gelindert: hatten ihn früher Druckfehler, die er in seinen Schriften entdecken mußte, in Wallung gebracht — einmal hatte ihm, als er ein frisch gedrucktes Buch aufschlug und ihm sofort Boch in die Augen sprang, Boch statt Buch, man stelle sich vor! diese Teufelei das ganze Weihnachtsfest verhagelt —, so ärgerten ihn solche Fehler zwar nach wie vor, aber nur für kurze Zeit, ja, er entwickelte insgeheim sogar ein Gespür für den amüsierlichen Hintersinn solcher Fehler, was er nach außen hin, den Verantwortlichen gegenüber, allerdings nicht zugab, um sie ja nicht dazu zu verlocken, sich noch mehr Fehler zu leisten. Er bezeichnete sich gern als Glücksaufschlager, das meinte einen, der mit dem ersten Griff, der ersten aufgeschlagenen Seite inmitten eines Buchs, das für ihn Wesentliche erwischte. Im Falle des Boch war er eher ein Pechaufschlager gewesen.

Keine absurden Aufregungen, keine Verwirrspiele mehr. Zu Klarheit und Vertrauen trug der Löwe bei. In den kleinen persönlichen Dingen wie im Großen. Als wäre die augustinische Lehre von der Illumination, der göttlichen Erleuchtung des Seinsgrundes, auf leisen Sohlen in sein Zimmer getreten, um bei ihm Wurzeln zu schlagen. Und in ihn, einen Erwachsenen mit blendendem Verstand, genährt von und geschult in der modernen Skepsis, war etwas von der Weltgunst, die einst dem Kind gewährt worden war, wieder eingekehrt. Er war nun mühelos Ptolemäer und Kopernikaner zugleich, wanderte wie ein Besucher, der zwei herrlich ausstaffierte Säle bestaunt, den einen mit geschlossener Decke, den anderen mit Loch darin, zwischen den beiden Weltdeutungszuständen hin und her.

Im geheimen floß aus dem Löwen die nie versiegende Zusicherung, das Netz der über Himmel und Erde geworfenen Namen, welches die Menschen zu ihrer Beruhigung ersonnen hatten, sei selbst dann noch reißfest, wenn Physiker, Astronomen, Biologen und philologische Raspelwerker mit feinen Scheren und Schabwerkzeugen emsig an jedem Namen und jeder Metapher, die im Gefolge der Namen heraufgezogen war, herumschabten und — schnitten. Was nicht bedeutete, daß die Wahrheit statisch gegeben war. Sie mußte sich wandeln, aber eher in Form mählicher Metamorphosen, ohne rigide Zersetzung älterer Zuschreibungen und Denkmodelle, die in den Orkus geschickt wurden.

Obwohl nun alles zu seiner Zufriedenheit eingerichtet war, ertappte er sich manchmal bei der Träumerei, er würde seinen Löwen einer Versammlung von Zoologen und Zoodirektoren in einem riesigen Auditorium präsentieren. Wie ein Dompteur, allerdings ohne Peitsche, trat er herein, im Gefolge den schleichenden Löwen. Er beugte sich zu ihm nieder und flüsterte ihm seine Befehle ins Ohr, hieß ihn sich auf die Hinterbeine setzen oder sich hinlegen, sich auf den Rücken wälzen und seinen Bauch herzeigen. Verblüfft wären die Herren vom Fach, äußerst verblüfft, wenn sie, von ihm dazu aufgefordert, die Handprobe vorzunehmen, vorsichtig näher rückten und — der eine dem anderen den Vortritt lassend — durch den Löwen hindurchgriffen und nichts, buchstäblich nichts erwischten als eine Handvoll Luft.

Hansi

Eine Vorlesung war ausgefallen, weil der Professor krank geworden war. Manche deuteten es als Zeichen, daß dieses Krankwerden mit dem Tod seiner Studentin in Verbindung stand. Soweit sie sich erinnern konnten, hatte der Professor noch nie eine Vorlesung ausfallen lassen. Es wurde darauf gelauert, ob er wohl in der folgenden Woche — und sei es in einer entlegenen Anspielung — auf den Vorfall zu sprechen kommen würde.

In gespannter Erwartung saß Hansi mit aufgeschlagenem Notizbuch, einen Montblanc darüber gelegt, in seiner Bank, ein Solitär zwischen drei frei gebliebenen Plätzen, die gemieden wurden, als könnte man auf ihnen einen Hautausschlag bekommen. Obwohl sich der Hörsaal füllte und einige schon auf dem Boden hockten, setzte sich niemand neben Hansi. Daß er einen Nachbar hatte, kam höchst selten vor, und dann handelte es sich jedes Mal um einen von den Alten aus der Stadt, die ihn nicht kannten.

Dieses Mal nahm Gerhard neben ihm Platz, was in Hansi eine winzige Aufscheuchung bewirkte, seine linke Wange begann zu zucken.

Von wem stammt der Pont Euxinius? fragte Gerhard.

Hansi rückte ein wenig von ihm ab, gab aber mit klarer Stimme Auskunft: Von einem unbekannten Studenten, der im Karzer starb. Dann hob er seine Ledermappe vom Boden hoch, kramte darin und holte das Blatt mit dem Gedicht hervor. Er legte es vor Gerhard hin.

Gerhard überflog das Blatt. Es war fein säuberlich abgetippt, vermutlich auf Hansis Schreibmaschine, in einer leicht geschwungenen, etwas mädchenhaften Schrift.

Und wie bist du auf ihn gekommen?

Richard setzte sich auf die linke Seite neben Gerhard, ohne Hansi zu grüßen. Der kümmerte sich nicht weiter darum, sondern hielt den Kopf gerade und beobachtete Gerhard nur aus dem Augenwinkel, wobei er zu einer längeren Suada über seine Gedichtforschungen anhob: er sei darin Temperamenten auf die Spur gekommen, die auf dem Sonderrecht der Verborgenheit bestünden, sei es aus Gleichmut, sei es aus Resignation, und er sehe sich in der Pflicht, ihr sorgsam aufgebautes Incognito zu wahren und zu schützen, nur der Poesie selbst wolle er freien Lauf lassen, ihr zur Geltung verhelfen; um so bemerkenswerter, wenn die Gedichte einst in flüchtigen Kritzeleien aufs Papier geworfen worden seien, ohne Anspruch auf Ewigkeit, sich aber wie durch ein Wunder erhalten hätten, um nun in ihm, Hansi, einen zu finden, der sie wieder zu Gehör bringe und damit ihrer eigentlichen Bestimmung zuführe.

Gerhard hatte Mühe, sich auf Hansi zu konzentrieren, denn von der linken Seite her plapperte Richard ihm das Ohr voll. Auch er war ein Schwadroneur vor dem Herrn und erzählte von seinen Südamerikaplänen.

Dann öffnete sich die Seitentür, Blumenberg trat ein, legte Hut und Mantel ab.

Gerhard verstand nur die ersten Sätze Blumenbergs. Sie handelten vom Konjunktiv als einem meisterlichen Instrument, verschiedene Zeiten im Irrealis an das Denken heranzuführen, um die mit Hilfe von Meßinstrumenten captivierte Zeit und das, was sich in den Erinnerungen als abgelaufene Zeit und darin scheinbar gesicherter Bestand abgelagert hatte, zu durchkreuzen und in andere Modelle zu überführen. Blumenberg hatte dafür das Mittelfeld der riesigen, nicht ganz sauberen Wandtafel hinter sich freigewischt, das Wort Irrealis hingeschrieben und mit lauter von ihm ausgehenden Strichen versehen, so daß es aussah wie ein Igel.