Einige, die ihn nicht kannten, wunderten sich, daß der Mann so schön und dabei so verdreht war, andere, die ihn schon öfter gehört hatten, wurden regelrecht wild. Es kam vor, daß man Hansi mit Tomatenscheiben bewarf, daß die Speisekarte wie ein torkelnder Flieger zu seinen Füßen landete; eine aufgebrachte Frau hatte einmal sogar mit der Pfeffermühle nach ihm gezielt. Die meisten Kellner trauten sich nicht, Hansi aus dem Lokal zu scheuchen. Er trat mit solcher Entschlossenheit an die Tische heran, daß womöglich größerer Schaden entstanden wäre, hätte man ihn davon abhalten wollen. Am Ende seiner Vorführung verbeugte sich Hansi und sammelte Geld in einem verbeulten Blechaschenbecher der Marke Gitanes. Die Ausbeute blieb gering. Auch über seine merkwürdige Art zu betteln wunderten sich die Kommilitonen. Hansi konnte unmöglich auf die paar Pfennige angewiesen sein, die da zusammenkommen mochten.
Die Gedichte, die er vortrug, handelten durchweg von der Liebe, genauer gesagt: vom Liebeshader. Und es waren beileibe keine schlechten — Friedrich Hölderlin, Johann Wolfgang von Goethe, Clemens von Brentano kamen zu der zweifelhaften Ehre, vom höllischen Geschnarre Hansis auf den winzigen gastronomischen Bühnen der Stadt Münster zu einem fatalen Minutenleben erweckt zu werden. Hansi unterschlug die Namen der Dichter, aber es kümmerte eh niemanden, in Erfahrung zu bringen, von wem die Texte waren.
Offenbar liebte Hansi Gedichte, in denen ein großes Du von einem flatternden Ich umkreist, umfangen, zur Strecke gebracht oder für immer verloren gegeben werden mußte. Das eigentlich Sonderbare kam manchmal zum Schluß seines Vortrags, nur war da kein einziges Ohr mehr bereit, hinzuhören — Hansi schloß mit einem Gedicht voller Rätsel, ebenso dunkel wie sein im Dunkel verschwundener Autor:
Und mir ein Stein und dir ein Stein
am dunklen Pont Euxinius,
und hier und da ein Storchenbein
und siebzehn Groschen minus.
Vom Säbelhieb ein Achtel nur
betrunkner Janitscharen,
im Abendrot die Vogelspur
von neunundneunzig Jahren.
Der Walfisch und die Nachtigall
mit vierzig Gummibällen,
und mir ein Ball und dir ein Ball
im Kampf der Dardanellen.
Die Rose mit dem Sklavendorn,
der Sperber singt Vigilien,
und hier und da am Goldnen Horn
der Islam von Sizilien.
Und all die Kreise schwarz und rot,
der Radi blüht in Spanien,
und mir ein Brot und dir ein Brot
und Lotten die Kastanien.
Willkommen, bittrer Sonnenschein
im Dampf der Nebelmeere,
und hier und da ein Storchenbein
und Gott allein die Ehre.
Gerhard war vielleicht der einzige, der Hansi ohne deutliche Mißfallensbekundung zuhören konnte. Zwar stieß ihn die Stimme ebenso ab wie die anderen, aber er fand den Versuch kurios, als lebender Barde von Tisch zu Tisch zu wandern, so daß er Hansi geduldig beobachtete, um das Phänomen zu studieren. Ein junger Mann mit Gedichtrespekt! Das war außergewöhnlich, mehr als das, es grenzte ans Unwahrscheinliche. Gerhard hatte sofort erkannt, von wem die Gedichte waren, bis auf das letzte, das ihm fremd in den Ohren klang und seine Neugier weckte.
Obwohl fast eine Stunde verstrichen und Richard tatsächlich eingeschlafen war, saß Hansi noch immer in derselben angespannten Abwehrhaltung da. Daran änderte sich auch nichts, als Gerhard ihm das Euxiniusblatt wieder zuschob. Hansis Arm zuckte, als hätte ihn ein elektrischer Schlag erwischt. Dann packte er das Blatt kommentarlos weg.
Gerhard versuchte sich vorzustellen, wie Hansis Gesicht wohl in einigen Jahren aussehen mochte, vollends erstarrt, mit schütterem, aber noch ebenso langem Haar, mit harten Falten um den Mund, vielleicht wären einige Marotten eingezogen, das Wangenzucken etwa wäre vollends unkontrollierbar geworden, vielleicht würden Hansi trotz aller Reinlichkeit, die er jetzt an den Tag legte, sogar ein paar Zähne fehlen. Dabei kamen ihm die Leistungen in den Sinn, die der Professor vor einer Weile noch am Konjunktiv gerühmt hatte, aber inzwischen war die Vorlesung längst zu anderen Themen übergewechselt.
Der Löwe IV
Mit der Vorlesung war er nicht zufrieden. Sie kam ihm etwas zerhackt vor, mit seinem Erzähltalent hatte er nicht so brillieren können wie sonst. Der Löwe war verschwunden geblieben, und das hatte ihn in Unruhe versetzt und um manchen guten Einfall gebracht. Gottlob, im Arbeitszimmer fand er den Löwen vor wie gehabt. Einen guten Schlußbogen zu finden, um die Zuhörer zu entlassen, war ihm diesmal nicht gelungen. Vielleicht hatte sein Versagen auch damit zu tun, daß eine Grippe ihn gepackt und er zwei Tage im Bett hatte verbringen müssen. Krankheiten, er haßte Krankheiten. Sie waren nichts für ihn. Reine Zeitverschwendung. Sie waren etwas für Leute, die sich gern in ihren Betten verkrochen und vor sich hinjammerten.
Seine Stimmung litt; er fühlte sich noch immer etwas schwunglos. Trotzdem freute er sich auf das Telephongespräch, das er später mit dem Redakteur führen würde. Sie kannten sich nur über den Apparat und durch Briefe, die sie gelegentlich wechselten. Blumenberg schätzte die Gespräche mit dem klugen, um einige Jahrzehnte jüngeren Mann. Da war jemand am anderen Ende der Leitung, der ihn verstand, der gewitzt und belesen genug war, ihm bis in entlegene Anspielungen hinein folgen zu können, und offenkundig Vergnügen daran hatte, sobald Blumenberg ein Thema anschlug, es durch eigene Anekdoten anzureichern. Natürlich behielt Blumenberg in den Gesprächen die Oberhand; er war verantwortlich für die Drift, in der das Gespräch voranglitt und vom jeweils eingeschlagenen Kurs abkam, aber der Mann besaß genügend Selbstvertrauen, um ihm frei, nicht etwa liebedienerisch oder gar unterwürfig zu begegnen. Umgekehrt übermittelte der Redakteur aus seiner Zeitungswelt Nachrichten und Anekdoten an das nächtliche Altenberge, noch bevor sie veröffentlicht waren, die wiederum er, Blumenberg, mit Vergnügen kommentierte, sogar das eine oder andere Karteikärtchen damit füllte, nachdem das Gespräch beendet war.
Blumenberg schätzte den intensiven Austausch, der in schwebender Freiheitlichkeit sich nur über das Ohr vollzog. Vom menschlich Allzumenschlichen einer Nahbeziehung, in der Haut und Haar, Kleidung, Gerüche, Gesten, Blicke, verstörende Gewohnheiten beim Essen etwa und viele andere Dinge eine irritierende Rolle hätten spielen können, blieb ihr Verhältnis verschont. Blumenberg wußte nicht einmal genau, wie der Mann aussah. Ein kleines Photo — der Redakteur in einer stehenden Gruppe abgelichtet, wobei er den Kopf gesenkt hielt und nicht sonderlich gut zu erkennen war — hatte Blumenberg einmal in einer Zeitung gesehen. Aber das war mindestens zwölf Jahre her.
Kurz vor Mitternacht war es wieder soweit. Aus dem Weinkeller hatte er sich eine besondere Flasche Bordeaux verschafft, einen Saint-Émilion von 1977, einen Grand Cru vom Château Ausone, hatte ihn geöffnet, ihn eine Weile stehengelassen und sich nun ein Glas eingeschenkt.
Er nahm einen Schluck: wirklich erstklassig. Die Stimme des Redakteurs klang bei der heutigen Verbindung etwas entfernt. Rasch und unkompliziert, wie sonst zwischen ihnen üblich, konnte der Gesprächseinstieg nicht gefunden werden.
Es lag an ihm. Blumenberg hatte den brennenden Wunsch, dem Redakteur vom Löwen zu berichten. Der Wunsch loderte geradezu in ihm. Unbedingt, ganz unbedingt wollte er davon erzählen. Es mußte doch wenigstens ein Mensch vom Löwen erfahren, selbst auf die Gefahr hin, daß der ihn für verrückt hielte. Unmöglich. Selbst dieser besondere Mann am nächtlichen Apparat, mit dem er sich auf eine selbstverständliche Weise verbunden fühlte, würde eine solche Nachricht kaum verkraften können. Für übergeschnappt gehalten zu werden war noch die geringste Gefahr. Blumenberg durfte den Redakteur am anderen Ende der Leitung nicht in Verlegenheit stürzen. Der Einbruch des Absoluten war nicht mitteilbar. Er hätte nur Ratlosigkeit erzeugt, was wiederum auf ihn selbst, Blumenberg, so hemmend gewirkt hätte, daß ihnen beiden nicht herauszuhelfen gewesen wäre. Blumenberg sah das klar voraus, dennoch mußte er unablässig gegen das Verlangen ankämpfen, vom Löwen zu sprechen, jetzt, wo der gerade so einladend dalag und es in seinem Hirn von Löwenwörtern nur so wimmelte.