Seine Kommilitonen in Münster hatten übrigens richtig vermutet — Hansi war vermögend und konnte tun und lassen, was er wollte. Über die Jahre war sein Vortragsdrang erlahmt. Solange er seine Praxis betrieb, wo er meist in einem weißgekalkten Behandlungszimmer saß und wartete, sah man ihn nicht mehr mit seinen Gedichten und dem verbeulten Blechaschenbecher die Cafés abklappern. Durch die geschickten Anzeigen angelockt, waren in seiner Praxis anfangs einige Neugierige erschienen; sie wurden zeremoniell empfangen und in einen Wassily Chair gesetzt, aber selbst die Verrücktesten unter ihnen kehrten nicht wieder. Hansi war und blieb ein Solitär. Unfähig, Menschen zuzuhören, war er nur fähig, sie von seinem Schreibtisch aus niederzusprechen, wobei er seine Patienten selten ansah, sondern auf ein Acrylbild an der gegenüberliegenden Wand starrte, das einen ins Wasser eintauchenden Schwimmer zeigte. Eine solche Behandlung ließ sich kaum jemand zweimal gefallen, der sich ratsuchend zu ihm verirrt und am Ende der einstündig auf ihn niedergegangenen Tiraden hundert Mark zu erlegen hatte.
Hansis alter Drang lebte aber sofort wieder auf, als die Praxis einging. Allerdings trat er jetzt nicht mehr mit Gedichten an die Wirtshaustische heran, sondern mit selbstentworfenen Traktaten, womit er sich bei den Gästen noch schneller verhaßt machte, als er es mit den Gedichten getan hatte. Auf den Aschenbecher verzichtete er. Offenbar erschien es ihm unbillig, in der Öffentlichkeit Geld zu verlangen, wofern es sich nicht um eine ästhetische Darbietung handelte, sondern um Weckrufe von ihm selbst.
So schritt die Zeit voran, und Gerhard sollte mit seiner Prophezeiung recht behalten, vielleicht nicht mit dem Wangenzucken, aber mit allem anderen. Beängstigend schnell hatte sich Hansis Verfall vollzogen. Nach wenigen Jahren gab es nicht mehr den schmucken Hansi von ehedem, der Nacht für Nacht durch die Kneipen von Kreuzberg und Charlottenburg geisterte: Hansi war heruntergekommen. Ein geschultes Auge hätte vielleicht erkennen können, daß seine Kleidung einstmals eine sehr gute gewesen war; jetzt war sie abgeschabt und verschmutzt. Das Haar, vor der Zeit grau und schütter geworden, trug er noch immer lang. Mit seinen markanten Zügen sah er fast aus wie Antonin Artaud in den späten Verwitterungsphasen, da fehlende Zähne den Mund hatten zusammenfallen lassen.
Als sich die Mauer öffnete, steigerte sich Hansi in eine große Erregung hinein. So viele neue Menschen, die orientierungslos herumirrten und die es zu wecken galt!
1991, an einem späten Donnerstagnachmittag im Oktober, da das Gewühle im Bahnhof Zoo besonders groß war, faßte er unten in der Halle vor dem Aufgang zu den Zügen Posten. Neben sich hatte er einen alten Pappkoffer gestellt. Einige Minuten fixierte er die Passanten, die, ohne ihn weiter zu beachten, an ihm vorbeiströmten. Mehr aus Gewohnheit, nicht weil er ihn brauchte, nahm er einen Zettel aus der Hosentasche und erhob die Stimme. Hansi hatte nie eine volltönende Stimme besessen, jetzt strengte er sich mächtig an, durch die hohe Halle zu dringen, und kam darüber ins Kreischen. Mit angespannten Halssehnen empfahl er den Passanten die Heimkehr zu sich selbst.
Von einer Wüste der Traurigkeit seid ihr umgeben! schrie er die Leute an, von denen nur wenige zu ihm hersahen und noch wenigere ihre Schritte verlangsamten. Sie dachten, ein alkoholisierter Krawallmacher brülle sie an.
Ratlos! brüllte es aus ihm heraus: Ratlos seid ihr, ratlos blickt ihr auf das bleiche Ruinenfeld eures widerlichen Lebens! Ihr in euren Löchern. Raus, rein, überall Löcher. Schmutzloch! Schmutzloch! Nicht geschenkt haben will ich eure Löcher. Lochkrepierer seid ihr. In seinem Loch ist jeder Käfer Sultan, sagen die Ägypter. Die Ägypter sind weise. Ihr aber seid Käfer! Ihr wollt nicht aus euren Löchern.
Mit erhobenem Zeigefinger fuchtelte er an der Luft herum: Zur Sicherheit werdet ihr jetzt alle für tot erklärt und aus dem Operationsgebiet abgezogen!
Er legte den Finger an die Stirn, als müsse er überlegen, seine Stimme wurde ruhiger und tiefer: In Afrika ist der Ausdrucksvolle schön. Wer am ausdrucksvollsten mit den Augen rollt und am wirkungsvollsten mit dem Kinn zittern kann. So einen Mann holen sich die Mädchen mit locker schwingenden Armen aus der Runde. Wer mit dem Kinn zittern kann, hat gewonnen! Her zu mir, sage ich! Auserlesene, her zu mir!
Wieder fuhr sein Zeigefinger senkrecht in die Höhe, und wieder setzte das Kreischen ein: Der sich und andere verwirrende Mensch ist der gewöhnliche Mensch. Das gemeine Aas. Ihr seid die gewöhnlichsten Menschen. Schmutzloch!
Hier nun zitterte seine Stimme von schwelendem Zorn, und sein gegen die Leute ausgestreckter Finger zitterte mit: Aber ich weiß zu verhindern, daß ihr weiter wie gewöhnliche Menschen vor euch hinschmutzt. Vor euch steht der Erwählte!
Er erhob sich auf die Zehenspitzen und stellte sich dann fest auf die Füße: Hier — er zeigte mit abgehackter Bewegung auf seine Füße —, hier steht Einer! Einer, der! Hansjörg Cäsar Bitzer. Ordnungsdienstlich. Die Entfernung aus dem Operationsgebiet ist verfügt! Weg! Arschlöcher weg!
Nun wedelte Hansi mit den Armen, als müsse er Fliegen verscheuchen, dann faßte er sich und nahm seine übliche Drohstellung ein: Aber vorher geht der Koffer auf. Der HERR hat gewerkt! Lämmer werden dem Koffer entquellen, nicht falsch, wer jetzt an das Lamm Christi denkt! Nicht falsch, wem jetzt das Kinn zittert, wenn ich die Schlösser schnappen lasse. Auf geht’s, ihr Arschlöcher! Glaubt nur, daß es mit euch bald ein Ende haben wird. Wundern werdet ihr euch über meine Lämmer. Ich habe Lämmer dabei, einzigartige Opferlämmer, die nur darauf warten, euch zwischen die Beine zu laufen. Seht, ich hebe jetzt meinen Zeigefinger, wie einst Christus beim Abendmahl den Zeigefinger hob — Hansi hob aber nur kurz den Finger, stürzte sich auf einen Passanten und entriß ihm eine Flasche Coca-Cola, warf sie zu Boden, wo sie splitterte und ihren Inhalt ergoß —, du da, du wirst mich verraten, und du, und du, und du, ihr alle werdet mich verraten! Verräter werden alle aus dem Operationsgebiet entfernt!
Der junge Mann war zu erschrocken, um etwas gegen Hansi zu unternehmen. Weil gar zu absonderlich war, wie sich der Verrückte benahm und was er herausschrie, hatten sich inzwischen doch Neugierige eingefunden, ein altes Ehepaar und ein Kind, eine Gruppe junger Polen. Die Frau hatte den Kopf schiefgelegt, um besser zu hören. Aus gehörigem Abstand heraus schauten sie auf Hansi. Da traten zwei Wachleute von einem privaten Sicherheitsdienst heran und faßten Hansi mit geschulten, unwiderstehlichen Griffen von hinten unter die Arme. Der wehrte sich verzweifelt, drehte wild den Hals, schrie, zappelte, trat mit den Beinen gegen die Beine der Sicherheitsmänner, seine Widerstandsfähigkeit wuchs mit jedem Schritt. Während die Männer ihn zum Ausgang schleiften, schrie er immer wieder nach seinem Koffer und seinen Lämmern. Schrie: Ich bin’s, der Stein, der schreit!
Lämmer! das Wort füllte die Halle, während Hansi zwischen den beiden zusammensackte. Sie glaubten erst an einen Trick, ließen den Leblosen vorsichtig zu Boden gleiten, sie stießen ihn, rüttelten an seiner Brust, dann riefen sie den Rettungsdienst, Männer in grellen Jacken, die sich an ihm zu schaffen machten, aber nicht mehr tun konnten, als den Tod des Mannes festzustellen. Als man später den Koffer öffnete, fand man ihn leer. Das heißt, nicht ganz. Eine Bildpostkarte war auf den Grund geklebt mit einem Gemälde von Zurbarán. Es zeigte ein gefesseltes Lamm, erbarmungswürdig in seiner Unschuld, das zarte Reiflein eines Heiligenscheins über dem ergebenen Kopf.