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Am 28. März 1996 fand ihn seine Frau tot im Bett liegen. Eine Spur Löwengeruch hing im Zimmer, aber so gering, daß die Frau in ihrer Aufregung und der herbeigeholte Arzt nichts davon bemerkten. Eine angebrochene Tafel Schokolade von Cailler war dem Toten aus der Hand geglitten. Ein Stückchen Silberpapier lag auf dem Boden. Auf Blumenbergs Pyjamajacke und auf der Bettdecke hatten sich kurze, stumpfe, gelbliche Haare verfangen, die schwerlich von einem Menschenkopf stammen konnten. In dem geschäftigen Hin und Her um den Toten blieben sie unentdeckt. Die Anzeigen, die später verschickt wurden, zierten Briefmarken mit dem Löwen von Lübeck.

Im Inneren der Höhle

Eine Bleibe, hatte Samuel Beckett geschrieben, wo Körper immerzu suchen, jeder seinen Verwaiser. Groß genug für vergebliche Suche. Eng genug, damit jegliche Flucht vergeblich. Beckett hatte einen zylindrischen Behälter vor Augen. Oben zu. Kein Entkommen. Nicht allzu hoch, nur sechzehn Meter. Im Kopf des Lesers muß jetzt ein davon verschiedener Behälter entstehen, der allerdings von Becketts Verwaiser wichtige Objekte, Lautäußerungen und Gesten empfangen hat, zum Beispiel Leitern, zum Beispiel in abgeschwächter Form das Keuchen, zum Beispiel das selbstvergessene, verlangsamte Spiel der Finger — groß, der Raum, wandelbar groß und größer, kein Raum der Einsperrung, zumindest keiner engen, mit hoher Decke, mit vom Hauptraum ins Unabsehbare abzweigenden Nebenräumen. Licht. Mal schwach, mal stärker, Licht, möglicherweise von überall her kommend, Licht, wie gelenkt vom Auge des Betrachters innerhalb der Höhle, aber ein beharrlich sich gleichbleibendes Licht, wenn auch nur ein Schimmer, vom schmalen Ausgang der Höhle her, allerdings aus weiter Ferne kommend, für müd gewordene Existenzen schwer zu erkennen, schwer zu erreichen. Still hier drin. So still, daß ein einzelner Laut wie gestochen aus dem Schweigen heraus erklingt. Wie ein auf den flachen Spiegel eines Höhlensees aufschlagender Tropfen. Aber es ist unmöglich zu hören, wie die Welt altert, trotz der dringlichen Schärfe, mit der sich jeder Laut zu hören gibt.

Wandelbar auch das Kleid der Höhle. Ein wandelbarer Wall, an dem die Bilder auflaufen. Mal nackte Felswand, mal von aufzuckenden Erscheinungen belebt, mal mit Tapisserien behangen, aus denen einzelne Figuren hervortreten oder hervorhüpfen können, zum Beispiel das Rebhuhn, um, wenn nicht mehr benötigt, wieder in die Tapisserie aufgenommen zu werden und dort ruhigen, rebhuhnhaften Sinnes zu verharren, bis ein neuerliches Herauskommen gewünscht wird. Leitern an den Wänden, auch sie an wandelbaren Stellen. Aber, soweit der Hauptraum überblickt werden kann, derzeit nicht in Gebrauch.

Wenn man nicht wüßte, daß auch der Hauptraum seine Form verändern kann, würde man sagen: in der Mitte des Raums bequem hingelagert sechs Figuren. Teils auf einem alten, etwas fleddrigen Chesterfield-Sofa, teils am Boden gegen Kissen und Stapel von Decken gelehnt. Einer gelehnt gegen den Bauch eines mächtigen Löwen, mächtig auch im Vergleich zu den neben ihm klein wirkenden Menschen: er, Löwe, Blickfang der Höhle.

Nie zuvor hatte Blumenberg so wohlig geruht. Eine zweifelhafte Behauptung. Blumenbergs Erinnerungen an vormalige Ruhezustände waren viel zu blaß, als daß er hier zu Vergleichen befähigt gewesen wäre. Das Atmen des Löwen teilte sich seinem Rücken mit. Vom Löwen ging Wärme aus, eine atmende Heizung umfing ihn von hinten. Der Löwengeruch, unbezwingliche animalische Präsenz verbreitend, streng, aber nicht unangenehm, hüllte ihn ein.

In Blumenberg bildete sich ein als. Hier wurde langsamer gedacht als vormals üblich. Es sei ihm nicht schwergefallen, als — aber wann? aber was? wohin führte dieses als? Die verflossene Zeit konnte er nicht mehr taxieren, die darin geborgenen Handlungen nicht mehr in einen logischen Ablauf bringen. Es war, als hätten sich im logischen Raum seines Denkens Kavernen aufgetan, die nach unbekannten Prinzipien funktionierten. Sein Unvermögen beunruhigte ihn nicht, darum verflüchtigte sich das als.

Er schlug die Augen auf, als täte er es zum ersten Mal, erblickte fünf Personen um sich geschart und erkannte sie. Zwei der Namen fielen ihm gleich bei. Käthe Mehliss und Gerhard Baur. Baur, an den er sich aus der Sprechstunde noch erinnern konnte, auch wenn diese Sprechstunde jetzt ferngerückt war, als hätte ein anderer sie abgehalten, fern, als hätte er sich selbst nur für einen vorbeiwischenden Moment im Kopf dieses anderen aufgehalten, der einmal Professor gewesen war.

So kurz ihre Begegnung gewesen sein mochte, Käthe Mehliss hatte sich ihm eingeprägt. Sie trug auch hier ihre weiße Haube, die den Kopf betonte, allerdings erschien sie ihm jünger, als er sie in Erinnerung hatte, während ihm die anderen vier Personen, auch Gerhard Baur, älter vorkamen. Das Mädchen, das immer in der ersten Reihe gesessen hatte, wirkte nicht mehr ganz so jung; die beiden Männer, die wohl auch seine Studenten gewesen waren und an die er sich eher verschwommen erinnerte, waren ebenfalls mittleren Alters.

Blumenberg schloß die Augen und gab sich der Löwenbehaglichkeit hin. Wenn er den rechten Arm ausstreckte und anhob, konnte er ihn auf die linke Schulter des Löwen legen. Alles war gestattet. Der Löwe war allein für ihn da. Blumenberg fühlte Gewißheit, daß er dem Löwen auf den Rücken hätte klettern dürfen, um wie ein Kind auf ihm zu reiten. Der Löwe würde dulden, daß er sein Gesicht in der Mähne vergrub, wahrscheinlich war es sogar erlaubt, ihm ins Maul zu langen und nach den Zähnen zu fassen, geradeso wie er einst seinem Axel mit dem Zeigefinger hinter die vorderen Eckzähne gefahren war, um ein bißchen mit ihm zu rangeln.

Seine Lider senkten sich herab. Unstoffliche Lider behüteten unstoffliche Augen, mit denen aber, war der Wille dazu vorhanden, intensiver gesehen werden konnte als mit herkömmlichen. Kein Grund, zu sprechen oder irgend etwas bewerkstelligen zu wollen. Da spürte er eine kleine Bewegung nahe der linken Hand, oder war es ein Scharren? Er öffnete die Augen — das Rebhuhn war zurückgekehrt, um sich — ja was? — mit ihm zu unterhalten? Blumenberg nahm es behutsam auf seinen Schoß und strich ihm mit dem Zeigefinger vorsichtig über den Kopf. Obwohl sich die Berührung in narrender Scheinhaftigkeit vollzog, war ein Vergnügen dabei, über den federglatten Kopf zu streichen, wobei das Rebhuhn den Kopf zu ihm herwendete und ihn aus einem vollkommen runden, schwarzglänzenden Auge ansah.

Bei dem Gehäusbild von Antonello da Messina habe ich mich falsch besonnen, sagte Blumenberg, da steht natürlich keine Wachtel auf der Brüstung, sondern du stehst da.

Das Rebhuhn nickte.

Die Erinnerung an sein Arbeitszimmer kehrte plötzlich mit überraschender Deutlichkeit wieder: Verzeih, ich hatte keine Abbildung auf dem Schreibtisch liegen, und es war lange her, daß ich sie mir zuletzt angeschaut hatte. Du bist in dem Bild, und du bist es gewesen, du allein, zu dem sich Johannes niedergebeugt hat. Mit dir hat er gespielt, glücklich wie ein Kind.

Das Rebhuhn nickte.

Selbstvergessen, befreit vom Geschäft, in der Anschauung Gottes zu verharren, kitzelte der Gottesmann dich unter dem Schnabel. Du willst mir nicht verraten, was ihr damals beredet habt?

In einem Erschauern lüftete das Rebhuhn sein Gefieder und ließ ein leises Flügelburren hören.

Wie ein einfältiges Kind wird er gesprochen haben, di-di, du-du, da-da, sagte die Mehliss. Von ihrer aufrechten, scharfen Art hatte sie kaum etwas verloren. Sehr gerade saß sie auf einem Stapel Decken, die blickdicht bestrumpften Fesseln mit den schwarzen Lackschuhen überkreuz: Und das Huhn wird halt getan haben, was Rebhühner eben so tun — schnarren!