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Der Löwe wandte den Kopf zu Blumenberg hin, hätte ihn aber auch den Studenten zuwenden können und damit den Saal überblickt, einen alten, leicht ansteigenden Hörsaal, mit fast bis zum Boden reichenden Fenstern zu beiden Seiten. Auf den Bänken saß allerdings nicht nur die studentische Jugend; ein gebildetes älteres Publikum aus der Stadt, darunter auch einige Professoren von anderen Fachbereichen, fand sich regelmäßig zu Blumenbergs Vorlesungen ein. In der vordersten Reihe saßen einige besonders eifrige Studenten, die die Mikrophone ihrer Kassettenrecorder auf ihn gerichtet hatten.

Sie alle sahen durch den Löwen hindurch, als unterscheide er sich nicht vom Holz des Fußbodens. Aber vier junge Leute, die locker verstreut im Raum saßen, spürten, daß sich etwas Außergewöhnliches zugetragen hatte, was über die buchenswerte Aktion ihres Professors mit den Cola-Flaschen hinausging. Es war, als hätten sie etwas gerochen, mit feinen Instinkthärchen etwas erspürt, das üblicherweise nicht in einen Vorlesungssaal gehörte. Richard, der mit langgestreckten Beinen in der drittletzten Reihe mehr hing als saß, war davon ebenso ergriffen wie Isa, die — wie immer — kerzengerade ihren Platz in der ersten Reihe etwas rechts vom Pult okkupierte; Gerhard und Hansi, auf mittlerer Ebene rechts und links verteilt, waren davon auch angesteckt, aber keiner von ihnen hätte zu sagen gewußt wovon. Nur Isa merkte, daß der Professor häufig zu Boden sah, auf eine Stelle, an der es nichts weiter zu entdecken gab.

Vom Löwen ging ein Kraftstrom aus, der Blumenberg ungemein belebte.

Er fühlte sich einig mit seinem Geschick wie nie zuvor. Sicher, die meisten seiner Vorlesungen waren ihm geglückt. Durch einen in der gesprochenen Rede präzis erfaßten Gedankenstrom die eigene Person in eine kulturelle Sphäre zu heben und sie darin wachsen zu lassen, die Fülle der Gedankengunst durch Fremdgenuß (der sich in den aufmerksamen Gesichtern seiner Zuhörer spiegelte) in Selbstgenuß zu verwandeln, das alles war ihm längst vertraut. Frei, von Kärtchen zu Kärtchen, die er auf der Theke wie bei einer Patience hin und her schob, eine federnde Rede aufzubauen — während er wechselweise nach links in den grünen Park blickte und dann wieder die Zuhörer ins Auge faßte —, Witze zwischeneinzustreuen und Neuland zu betreten, das sich ihm während des Redens erst zeigte, wobei sein Gedächtnis ihn nie im Stich ließ, sondern Verweise und Reflexionen bildhaft in dieses Neuland eintrug, darin hatte er Übung, darin war er Meister.

Er war sich seiner außerordentlichen Fähigkeiten bewußt. Seine Dienstgeschicklichkeit als bestallter Philosoph trat leuchtend zutage.

Mit Blick auf den Löwen sprach er beseelt. Sprach von Sphärenharfen, Pilgerhymnen, Werdelust des Alls und einer kleinen Meldung aus den Vermischten Nachrichten, derzufolge ein Amerikaner eine Zeithaube erfunden hatte, die ein bißchen wie ein bestickter Kaffeewärmer aussah, gleichwohl sollte sie dem Träger ermöglichen, sich in die Welt vor der Geburt und nach dem Tod hineinzutasten. Dabei kam er so in Schwung, daß er das imaginäre Zeithäubchen des Douglas E. Bickerson mit erhobenen Händen sich auf den Kopf setzte.

Um die sich ausbreitenden Heiterkeitswellen zu dämpfen, holte er den nächsten Satz aus der Tiefe seiner gewölbten Brust: Denken Sie an den Zeithaushalt des Menschen, die verwundbarste Stelle seiner Existenz — denken Sie daran, wie schwierig es ist, an die unaufstockbare Endlichkeit und Unwiederbringlichkeit wirksamen Trost heranzuführen. Um etwas gänzlich Unvertrautes ins Vertraute zu ziehen, dazu bedarf es raffinierter Kunstgriffe, und sei’s ein Häubchen, das wie ein gestickter Kaffeewärmer aussieht.

Gelächter im Saal. Blumenberg hatte mit beiden Händen die höherstehenden Seitenwände umfaßt, jetzt löste er die Hände und legte sie parallel auf die Fläche des Pults nieder: Von den Kunststücken der Zeitverlängerung, der Zeitverwandlung, von den Heimkehrwünschen in die archaische Unverantwortlichkeit, von Heilsplänen höherer Art und den geistigen Kräften, die diesen zum Aufschwung verhelfen — das nächste Mal.

Er schob die Karteikarten zusammen; während der Applaus heftig auf die Bänke gepocht wurde, klopfte er seine Karten in Form und steckte sie in die Tasche zurück, packte Hut und Mantel und verschwand rasch, wie er gekommen war, durch die Seitentür. In Wahrheit nicht ganz so rasch. Richard, Gerhard, Hansi, Isa und einigen anderen bot sich ein seltsames Schauspiel, als ihr Professor, nachdem er die Tür aufgeklinkt hatte, plötzlich innehielt und sich umwandte, eine Weile wartete und dabei vor sich hinsah. Als wolle er jemanden durchlassen, trat der Mann höflich zur Seite, drehte sich dann mit einem eleganten Schwung zurück, packte die Klinke, schloß die Tür und war weg.

Wie immer hatte er den Besuchern keine Gelegenheit geboten, anschließend mit ihm ins Gespräch zu kommen. Es war eben nicht seine Art, herumzutrödeln und dabei auf die eine oder andere Bemerkung zu lauern, etwa ein Lob oder einen törichten Kommentar, den ein Student noch auf dem Herzen haben mochte. Er stieg sofort in seinen Peugeot und fuhr die wenigen Meter zur philosophischen Fakultät.

Als er in seinem Büro anlangte, um sich für eine Sprechstunde bereitzuhalten, zu der sich ein Student schriftlich angemeldet hatte, kehrte die Idee wieder, die beim ersten Auftauchen des Löwen in ihm herumgehuscht war, die Idee, es handle sich um einen Studentenulk. Im Moment war kein Löwe da. Blumenberg befand sich allein im Zimmer.

Ein Jux? Aber wie sollte das gegangen sein? Seine Studenten sollten einen ausgestopften Löwen nach Altenberge geschafft haben? Einen, der sich, wie gerade bewiesen, auch noch vollkommen natürlich bewegen konnte? Unmöglich. Als er an seine Studenten dachte, was inzwischen eher selten vorkam, wollte ihm kaum einer namentlich einfallen. Vorbei die Zeit, als der frisch berufene Professor in Gießen die Nachmittage und manchen Abend in angeregter Diskussionsrunde mit Assistenten und Studenten zubrachte, eingehüllt in den Rauch von Zigarren und Zigaretten, befeuert von Wein und Likören. Vorbei die Zeit, da er als jüngerer Spund manch älterem Kollegen höflich zwar, aber von sardonischem Übermut gezwickt Contra gab, Joachim Ritter etwa, den er anläßlich des Vortrages eines Physiologen in der Mainzer Akademie in eine amüsante Diskussion über die Kreislaufprobleme verwickelte, die der aufrechte Gang des Menschen mit sich brachte, wobei er, Blumenberg, die Vorteile der Zweibeinigkeit gegenüber der Vierbeinigkeit in Zweifel zog und dabei schlau, gut verpackt, gut versteckt, äußerst diskret durchblicken ließ, daß es mit dem vielgerühmten aufrechten Gang des Menschen auch im metaphorischen Sinn nicht allzu weit her war, wie die Erfahrungen der jüngsten deutschen Vergangenheit bewiesen.

Aber solchen Tumulten hatte er sich längst entzogen. Diskussionen anzuzetteln, um sich selbst Gehör zu verschaffen, um darin zu brillieren, das war vorbei. Natürlich erregte auch heute noch der eine oder andere Student seine Aufmerksamkeit. Zum Beispiel gab es da dieses Mädchen in der ersten Reihe, das immer auf demselben Platz saß und jede seiner Gesten wie gebannt verfolgte. Aber nach und nach war ihm das Interesse an den Studenten, das er in den Anfangsjahren seines Unterrichts durchaus lebhaft verspürt hatte, abhanden gekommen.

Für heute hatte sich ein Gerhard Baur angemeldet. Pünktlich um 16 Uhr 15 klopfte es, und ein langer dünner Mensch trat ein. Blumenberg erinnerte sich, daß der junge Mann schon einmal in der Sprechstunde gewesen war und einen günstigen Eindruck hinterlassen hatte. Gleich beim ersten Besuch war Blumenberg Reinhold Schneider in den Sinn gekommen, der auch ein fadendünner Zweimetermann gewesen war und sich immer gebeugt gehalten hatte, um die zwanzig Zentimeter ungeschehen zu machen, die er zuviel maß.