Das Rebhuhn duckte sich in Blumenbergs Schoß nieder.
Richard hatte eine Hand weit über den Kopf erhoben. In Zeitlupe häkelten seine gekrümmten Finger etwas an der Luft: Ich habe meinem Kater komplette Gute-Nacht-Geschichten erzählt und ihn ins Bett genommen, sobald die Mutter aus dem Zimmer war. Ein fetter, fauler, schwarzer Kerl. Vielleicht war es auch nicht die Mutter. Vielleicht die Großmutter.
Halb liegend, halb sitzend, war er neben Isa tief eingesunken auf dem Chesterfield-Sofa, und nur die am langen Arm erhobene Hand zeigte an, daß er größer war als Isa.
Früher habe ich gern Rebhuhn gegessen, sagte Blumenberg, jetzt, wo ich dich so nah bei mir habe, ist das eine unmögliche Vorstellung, so unmöglich, als hätte das Verzehren von Rebhühnern niemals stattgefunden.
Das Rebhuhn erschauerte in seinem Schoß.
Es sei der scheußliche Lauf der Welt, daß man sie abschieße — verehre, male, abschieße, sich herablasse, mit ihnen zu sprechen, abschieße, undsoweiter, fort und fort, ließ sich etwas vernehmen, das vielleicht das Rebhuhn war. Die Stimme klang erstaunlich tief für einen so kleinen Vogel; jedes Wort wurde allerdings mit einem anfänglichen Glucksen hervorgestoßen, als hätten die Lautwerkzeuge des Tieres, besonders sein Zünglein, Mühe, die menschliche Sprache nachzubilden.
Niemals, überhaupt nie habe ich Hühner gegessen, sagte Isa. Vielleicht als Kind. Aber das änderte sich mit siebzehn, als ich in der Bretagne einen Geflügelmastbetrieb von innen sah. Sie wunderte sich, daß dieser Geflügelmastbetrieb, die Dumpfigkeit der Halle, ihr wieder so deutlich ins Gemüt stieg. Für einen Moment hielt sie inne, um zu überprüfen, ob auch wahr sei, was sie gerade gesagt hatte.
Dem Futter war irgend so ein Gift beigemischt, damit den Hühnern die Federn ausfielen. Alle waren nackt. Alle verletzt. In einer Lagerhalle Tausende von Hühnern, die Luft trüb vom hochgewirbelten Dreck. Unerträglich heiß war’s darin. Und überall das Gegacker, aber nicht einzeln, sondern in Wellen. Danach war es mir unmöglich, je wieder ein Huhn zu essen.
Immerhin, sagte Blumenberg, junge Menschen lassen sich von seltsamen Anblicken überwältigen und werden offenbar befähigt, eine Entscheidung zu treffen.
Stimmt aber nicht, sagte Gerhard, ich habe bei euch in der Wohnung mal ein Suppenhuhn gekocht, und du hast die Suppe regelrecht in dich hineingeschlungen, so gut schmeckte sie dir.
Isa wandte sich von Gerhard ab, der linkerhand von ihr, sehr für sich, mit langen Beinen inmitten eines Kissengebirges saß.
Hansi riß ein Streichholz an, ein Vorgang, der sich überlaut, mit einer winzigen Explosion, in Gezisch und Geknister übergehend, bemerkbar machte. Seine Zigarette hatte die Form einer wirklichen Zigarette, und sie glühte auch auf, als er an ihr sog, aber sie war eine gekonnte Lufttäuschung, und die um sie gekniffenen Lippen waren dies nicht weniger. Der Rauch, der beim Ausblasen aufstieg, wurde von keinem Windhauch entführt, nur von der Leere; er war kunstvoll, ein schnörkeliges, verschlungenes Gebilde, das sich langsam entschlang, als würde mit jedem Rauchstoß ein Knoten in Hansis Innerem in die Freiheit entlassen und entwirrt.
In ungewohnt salopper Nähe zu menschlichen Wesen, zwischen den Beinen Richards und Isas, hatte sich Hansi gegen das Sofa gelehnt, beim Rauchen legte er den Kopf weit zurück. Isa rührte mit dem Handrücken an seine Haare, die auf dem Sitzpolster auflagen, falls man diese Haare, gemacht aus hauchdünnen grauen Schattenfäden, noch Haare nennen wollte. Hansi schwieg, und er schien sein Schweigen zu genießen.
Was wir gegessen haben oder nicht gegessen haben, zählt hier nicht, sagte die Mehliss, hier wird jedenfalls nicht gegessen.
Aber die Leiden, die sie durch den Menschen erfahren hätten, die zählten sehr wohl, gab das Rebhuhn zu bedenken. Es hatte sich aufgeplustert und versuchte, würdevoll zu erscheinen, dabei kam es in Gefahr, sich an den Gluckslauten zu verschlucken.
Wir sind nicht dazu da, an alten Hiobsposten herumzukauen, sagte die Mehliss. Das ist nicht der Zweck unseres hiesigen Aufenthalts.
Ein leises Keuchen machte sich bemerkbar.
Was wäre der Zweck? Die große Einhauchung? fragte Hansi, mit dem neuerlichen Ausstoß einer Rauchwolke so intensiv befaßt, daß ihn eine mögliche Antwort gar nicht zu kümmern schien. Die Wolke machte sich waagrecht, in Wellen, davon.
An meine persönliche Wiedererweckung mag ich nicht glauben, das Haptische, das zweifellos Haptische, ist ja dahin. Hansi legte den Kopf noch weiter zurück, schloß die Augen und murmelte: Mein Weltzorn ist auch dahin. Ohne meinen Weltzorn bin ich kaum mehr als das bißchen simulierter Rauch, der in mich eindringt und meiner Kehle entfährt. Es gelingt mir einfach nicht, den Zorn wieder heraufzuholen.
Von allem etwas wissen, von nichts etwas haben, daran muß man sich gewöhnen. Das war die Mehliss.
Hier sehe ich jedenfalls keinen, der das Bedürfnis verspürte, gegen die Höhlenwände anzurennen oder eine Leiter zu erklimmen, um weiter oben nach einem Durchschlupf zu suchen, sagte Gerhard, obwohl es vielleicht ganz einfach wäre, unser Behälter scheint mir nicht sehr solide umwandet.
Der geschlossene Raum erlaubt die Herrschaft der Wünsche, murmelte Blumenberg matt.
Aber die Leiden, die wir durch den Menschen erfahren haben, die zählen sehr wohl. Eigensinnig ließ sich die im Rebhuhn rumorende Stimme nicht vom gewählten Punkt abbringen. Der Mensch bildet sich immerzu ein, nur er leide.
Ganz recht, erwiderte Blumenberg etwas aufgeweckter, das ist der Weltaberglaube seiner Auszeichnung. Er leidet und bildet sich darüber ein, er sei mehr als die übrigen Geschöpfe. In seiner anthropozentrischen Eitelkeit ist er nicht zu bremsen.
Da drüben, im Dunkel, wachsen die Kartoffeltriebe meterlang, sagte Isa und zeigte in ein weiter hinten liegendes Ungefähres. Es ist unheimlich.
Die alte Höhle förderte das Aufkommen unsolider Gebilde. Ort der falschen Fertilität, Ort der trügerischen Nahrhaftigkeit, sagte Blumenberg. Aber wir sind in einer neuen Höhle, in der die platonischen Versprechungen so wenig ziehen wie in der alten.
Hier wird nicht gegessen, hier gibt’s keine Kartoffeltriebe, stellte die Mehliss fest, hier werden die Triebe entwildert.
Gerhard wandte ein, es sei jedenfalls nicht zu erkennen, daß man zwecks Seligspeisung mit dem Fleisch des Leviathan beköstigt würde. Vielleicht seien sie nicht gerecht genug dafür. Erpicht auf solche Speise sei er aber nicht.
Seine Augen waren wie die Augen der anderen auf Blumenberg gerichtet, als erhofften sie sich von ihm die wichtigen Aufschlüsse. Aber Blumenberg hatte die Lider wieder gesenkt, sein gelehrter Auslegungsdrang war ihm abhanden gekommen. Für gezielte Abwägungen der geführten Leben zwischen dort und hier fehlte ihm die winzige Dosis Angriffslust, der Antrieb der Sorge, die es selbst für subtile Unterscheidungen braucht. Und in der Runde verlangte man auch keine weiteren Einlassungen von ihm. Ein jeder verlor sich, ein jeder hatte eine Dämpfung erfahren, trudelte in einem Wachzustand umher, der mit dämmrigen Schlafpartikeln durchsetzt war. Einzig die scharfäugige Mehliss erschien um ein weniges wacher als die übrigen. Auf ihren schwarzen Lackschuhen glänzte ein diabolischer Schein.
Das Rebhuhn war Blumenberg inzwischen vom Schoß geglitten, paar Schritte weit war es davongestelzt, hatte sich im Ungefähren verloren, um in der Tapisserie zur Ruhe zu kommen.
Aber wir sind — Richard zögerte und nahm wieder seine Finger zu Hilfe, um an der Luft einen Gedanken zu fassen — wir sind immer noch durstigen Sinnes. In Brasilien habe ich mal ein Faultier gesehen, das — er kam ins Stocken und wußte nicht weiter.
Frei nach Epikur, sagte Gerhard, sind wir in endlose Gespräche verwickelt, wenn auch nicht in griechische, wenn auch nicht in göttliche. So sehr der Sorge enthoben, daß wir uns nur um der Verwicklung willen verwickeln und uns Geschichten erzählen, die wir nicht erlitten haben.