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Der Wind war umgeschlagen, die Wut der Eisenbahner schneller verraucht als diese erste von all den Zigaretten, die sie mir noch geben sollten. Bis auf den, der mich hochgezogen und bescheuert genannt hatte, wirkte keiner dieser Männer jünger als vierzig, und darum hatten meine Tränen womöglich Vatergefühle in ihnen geweckt, sie jedenfalls bewegt — zu der Annahme, daß ich mich aus Liebeskummer erst besoffen und dann auf die Gleise begeben hätte.

«Ist ja gut, Kleine«, sagte einer,»vergiß den Arsch. Wegen so was bringt man sich doch nicht um. Du könntest jeden kriegen, hübsch, wie du wärst, wenn du nur endlich die Flennerei lassen und dich mal wieder waschen würdest.«

Ein anderer zog eine flache Halbliterflasche Korn aus der Innentasche seiner Jacke.»Ich und der Rolf hier«, sagte er, auf den dicken Mann neben sich zeigend,»wir haben gleich Feierabend. Also werden wir uns jetzt einen gönnen. «Und Rolf öffnete einen der Blechspinde an der uns gegenüberliegenden Wand, entnahm ihm drei Gläser, stellte sie auf den Schreibtisch.

«Aber erst soll sie mal einen Happen essen, fertig, wie die ist«, meinte der lange Schmale, den ich für einen der beiden Transportpolizisten hielt. Er erhob sich, ging zu dem Regal hinter mir, kam zurück mit einer Brotbüchse, aus der er eine halbe, würzig duftende Klappstulle klaubte, und einer Thermosflasche, in deren Verschlußkappe er dampfenden schwarzen Kaffee füllte.

Ich aß die Mettwurststulle, trank den Kaffee, den Schnaps, und noch einen und noch einen, und meine Tränen hörten auf zu fließen. Nee, nee, sagte ich leise und so nett, als müßte nun ich diese Männer trösten, ich habe keinen Liebeskummer, wollte nicht sterben, bloß rauchen; und da unten im Gleisbett, da lag, was mir fehlte, nämlich das hier. Fast schon triumphierend hielt ich den fünf Männern das Päckchen Club hin, das ich endlich aus meiner Umhängetasche hervorgekramt, bisher jedoch nicht gebraucht hatte, weil ich ja bestens versorgt worden war.

Und abermals drehte sich der Wind; in den Augenpaaren ringsum erlosch das Feuer der Güte, und keine andere als ich hatte es ausgetreten. Der dicke Rolf, dessen Blick am schnellsten zu Asche geworden war, nahm die Thermoskanne vom Tisch, dann die Kornflasche, die er demonstrativ zuschraubte, und fauchte in die Stille hinein:»Das kann doch wohl nicht wahr sein. Du willst uns verarschen, du kleine Kröte, uns weismachen, daß du für ein paar Fluppen den Hals riskierst? Aber damit beißt du auf Granit bei mir. Hol noch mal tief Luft, weil du jetzt nämlich Ärger kriegst, richtig fiesen Ärger.«

Mir wurde einigermaßen klar, wie töricht, ja gefährlich es gewesen war, in dieser Situation, in den Händen dieser Staatsdiener, die Wahrheit zu versuchen. Und was hieß schon Wahrheit? Gab es jemals einen Menschen, der von Kummer völlig frei gewesen wäre? War nicht spätestens nach Ausbruch der Pubertät jeder Kummer Liebeskummer irgendwie?

Ich weiß nicht, ob mir derlei Fragen bereits in der Eisenbahnerbutze durch den Kopf gegangen waren oder erst, als ich neben dir lag und dir diese Geschichte nicht erzählen konnte. Oder entstehen sie gerade jetzt, da mich beide Geschichten beschäftigen, jene, die sich damals in Königs Wusterhausen zutrug, und unsere, die nicht zu Ende sein wird, bevor es auch mit mir zu Ende ist?

Rolf grabschte nach meiner Umhängetasche, die genaugenommen ein unförmiger, fleckiger, einstmals gelber Lederbeutel war, entleerte deren Inhalt auf den Tisch, schnappte sich das Portemonnaie, in dem er meinen Ausweis vermutete — oder sonst ein Papier, das einen Hinweis auf meine Identität enthielt —, fand jedoch nichts als meine letzten drei Groschen und ein am Vortag entwertetes S-Bahn-Ticket. Er krempelte meinen Beutel ganz um, Flusen und ein paar Kiefernnadeln rieselten herab aus dessen löchrigem Taftfutter.»Hast du Taschen im Rock und in denen irgend etwas, womit du dich legitimieren kannst«, fragte Rolf.

Obwohl ich mir der Gefahr, die sich da zusammenbraute, durchaus bewußt war, verlor ich für einen Moment die Kontrolle. Vielleicht lag es an den Schnäpsen, die ich so schnell gekippt hatte, jedenfalls kicherte ich, ließ den Zeigefinger meiner dreckigen Linken über dem Tisch kreisen und erwiderte: Aber sicher, guck mal da, den Fahrausweis. So nennt ihr die Dinger doch, oder?

Das war zuviel — für den Mann namens Rolf und die anderen vier, denn sie schwiegen — lange, bis einer sich wegdrehte zu dem kleinen Eckregal, auf dem, wie ich erst jetzt bemerkte, ein graues Telefon stand. Rolf ergriff den Hörer, wiegte ihn in der Hand wie eine Keule, räusperte sich und sagte beinahe tonlos:»Es reicht. Name, Adresse, Alter?«

Entschuldigung, war ja gar nicht frech gemeint, jammerte ich. Soja, der Name, Soja Edith Krüger, wohnhaft Karl-Marx-Allee 112, sechzehn seit März dieses Jahres, Schülerin der Klasse 10 b der Polytechnischen Carl-von-Ossietzky-Oberschule.

«Nee, nee«, sagte der etwas Jüngere, der mich hochgezogen hatte,»uns nimmst du nicht mehr auf den Arm. Rolf, drehst du mal eben die Nummer der Meldestelle Mitte … Ach Quatsch«, unterbrach er sich,»is ja noch zu früh fürs Amt. Ich bringe unser Früchtchen lieber gleich auf die hiesige Wache. Wer kommt mit?«

Nur einer, vermutlich der Dienststellenleiter, gab zu erkennen, daß er bleiben müßte. Rolf legte mir seine Hand in den Nacken; ich wußte, weder Tränen noch Dreistigkeit würden mir jetzt weiterhelfen, und mir kam, wie wohl manchem bedrängten Menschen, die Mutter in den Sinn, meine Mutter, zu der ich schon damals und eigentlich von Anfang an ein schwieriges Verhältnis hatte. Sie hielt mich für mißraten, ich sie für herzlos, ein Arbeitstier, das, wenn es wollte, tolle Klamotten nähen konnte — und auf dem Schifferklavier Kampflieder spielen, was ich äußerst peinlich fand. Noch peinlicher war mir der politische Ehrgeiz, der sie jeden Tag ein bißchen mehr aufblähte; und einmal, als sie nachts vor dem Kühlschrank hockte und in eine Salami biß, schlich ich mich hinterrücks ganz nah an sie heran, erschreckte sie mit den Worten: Bald wirst du platzen — vor Stolz. Unbeirrbar, wie einst am See jene Trauerweide, stieg sie die Karriereleiter hoch. Aus der drallen FDJlerin mit der tiefen, im sächsischen Tonfall die banalsten Torheiten verkündenden Stimme war eine Parteifunktionärin geworden, und daran, was aus der werden konnte, werden würde, wenn alles den üblichen sozialistischen Gang ging, mochte ich gar nicht erst denken, weil es mir Angst machte; allerdings nur um meinetwillen, denn ich war, es ließ sich nicht leugnen, Fleisch vom Fleische dieser Frau. Kurz, ich schämte mich — vor ihr und für sie.

Ich wußte, ich hatte, um das Schlimmste zu verhindern, kaum mehr einen Moment Zeit, und obgleich oder weil das so war, zischte aus dem schwarzen Nichts zwischen den spärlichen Glühpünktchen in meinem Schädel plötzlich wie ein Komet ein Satz hervor und schon Richtung Zunge nieder, ein Satz, den ich einmal geträumt hatte und von dem ich aufgewacht war, denn ich hatte ihn wohl für eine echte Erleuchtung, ja, für die Lösung eines auch nur geträumten, mir aber unwiederbringlich entglittenen Problems gehalten: Ruft meine Mutter, daß sie mir hilft, und schlagt sie dann tot. Doch nicht dieser Satz kam mir über die Lippen, statt dessen sagte ich: Nun ratet mal, wer meine Mutter ist. Alma Krüger heißt die. Genossin Krüger, zweiter Sekretär der Bezirksparteileitung Berlin, falls hier einer ne Eselsbrücke braucht. Und jetzt Pfoten weg, oder ihr kriegt den Ärger.