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Rolfs Griff lockerte sich, als habe man mit einem Betäubungsgewehr auf ihn geschossen. Seine Hand wurde leichenschwer und glitt von meinem Nacken ab und mir noch ein kleines Stück den Rücken runter. Dann war der Kontakt zwischen seinem und meinem Körper unterbrochen, für immer, wie ich hoffte — ohne daß ich Erleichterung empfunden hätte. Mir war heiß, mein Gesicht muß vor Scham krebsrot gewesen sein. Ich wagte es nicht, jemanden anzusehen; auch so wußte ich, sie wußten, was ich wußte: daß seit meinem Outing, wie man das heute nennt, seit dem Moment, da ich meine Mutter ins Spiel gebracht hatte, jedes weitere Wort gegen mich böse Folgen haben konnte, daß sie, selbst wenn sie, trotz unterschiedlicher Dienstgrade, ausnahmsweise mal zusammenhalten und den Hergang der Ereignisse übereinstimmend schildern sollten, Flecken in ihre Kaderakten bekämen, niemals mehr tilgbare, daß, obwohl sie zu fünft wären und ich nur eine, allein meiner Darstellung Glauben geschenkt würde, ja, geschenkt, denn die Polizisten, Schiedskommissare, Richter …, die über die Sache zu befinden hätten, würden mir glauben müssen, weil ich die Tochter von Alma Krüger war.

Ob und warum sie mir abnahmen, was ich aus Not preisgegeben hatte, weiß weder ich noch sonstwer, nur, daß jedem von uns sechsen klar war, wie verfänglich schon ein geflüsterter Zweifel an der Wahrheit meiner bisher durch nichts bewiesenen Behauptung sein konnte. Der Telefonhörer lag, als ich zu dem Regal rüberlinste, wieder auf der Gabel, und ich senkte wieder meinen glühenden Kopf, und in das eisige Schweigen hinein tönte laut das Knarren der Tür, die einer der Männer geöffnet hatte — und aufhielt, bis ich an ihm vorüber und im Dunkel der Unterführung verschwunden war.

Erst als ich wieder auf dem Bahnsteig an- und zu mir gekommen war, schweißgebadet, wie aus einer Narkose oder einem Traum, bemerkte ich, daß ich das Päckchen Club dort unten in dem Kabuff vergessen hatte. Aber da fuhr die S-Bahn vor und ich mit ihr davon — bis zur Station Schönhauser Allee, jener langen Straße, in der meine Freundin Claudia wohnte, die mir, wenn sie zu Hause wäre, zwei, drei Zigaretten geben und womöglich sogar etwas Geld leihen würde.

X

Es kam der Tag, für den Joe uns zum zweitenmal einbestellt hatte. Die Zeit bis dahin war schnell verflogen und gemessen an der, die nun begann, unbeschwert schön wie seither keine mehr.

Du hattest die Nacht zu jenem Freitag, dem zweiundzwanzigsten Mai 1987, ausnahmsweise nicht mit oder, wie öfter in den zurückliegenden zwei Wochen, wenigstens bei mir verbracht, sondern auf Julis Gästebett, falls das nicht auch gelogen war.

Also fuhr ich gegen Mittag nach Charlottenburg, um dich abzuholen. Ich war sicher, daß du rasiert und bekleidet wärst und erfreut, mich zu sehen, zumal ich dich — und sogar Juli — einladen wollte in ein Lokal, das dein Lieblingsessen anbot, Kohlrouladen; wie es hieß, die besten der Stadt. Aber du saßest noch im Bademantel, Julis Bademantel, auf diesem Gästebett, einem verschossenen roten Plüschsofa, das du für Juli aus einem Haufen Sperrmüll gezogen und ganz passabel restauriert hattest. Juli, die mir mit nichts als einem fliederfarbenen negligéartigen Etwas am Leibe die Tür geöffnet hatte, fläzte sich wieder neben dich und hinter den Couchtisch, der leer war, bis auf den Aschenbecher und zwei, nicht drei, Goldrandgläschen voll Sahnelikör. Ihr hättet spät gefrühstückt, sagte sie. Auch du meintest, obwohl du dein Glas kaum anrührtest und zuließest, daß ich es austrank, dir stünde der Sinn jetzt nicht nach» fester Nahrung«. Ich fühlte mich mies, wie ein Eindringling, eine Spielverderberin, verlangte trotzdem — in bemüht lässigem Tonfall, der nach bekehrtem Gauner klang und sicher nicht nur mich selbst an Joe erinnerte —, du mögest aus dem Knick kommen, aber pronto, und von Juli, als du ins Bad verschwunden warst, mehr Strenge gegen dich und Verständnis für mich und daß sie nachher ja pünktlich sein solle.

Julis glasig grüner Blick ruhte auf mir, unbeirrbar mild.»Ach, Soja«, sagte sie,»mit der Liebe ist es wie mit den Masern. Man bekommt sie nur einmal, und je später das passiert, desto schlimmer wird’s. Ist von Tolstoi, glaube ich.«

Ich verkniff mir eine Antwort, denn ich wußte keine, die nicht verräterisch gewesen wäre, doch vor allem fürchtete ich, daß wieder Joe aus mir sprechen könnte.

Noch unten, auf dem Weg zur U-Bahn, war ich den Tränen nahe. Ich hing an deinem rechten Arm, schwerer als der Beutel Kartoffeln, den ich, weil wir nun doch nicht essen gingen, bei einem Türken in Julis Straße gekauft hatte, an deinem linken; und vor einem Zeitungskiosk gab ich dir kleine Küsse hinters Ohr, die du hinnahmst wie Entschuldigungen. Und deine Laune besserte sich; im Zug packtest du dir lachend das Zweikilonetz mit Kartoffeln auf die Knie.»Das sind die von den ganz schlauen Bauern«, sagtest du.

Als ich dich begriffsstutzig anblickte, lachtest du noch breiter. Wenn die dümmsten Bauern immer die größten Kartoffeln hätten, so deine Erklärung, könnten unsere kleinen ja nur von den schlauen stammen.»Mann, müssen die klug sein und sich angestrengt haben, um aus stinknormalen Knollen solche Knippkugeln rauszuzüchten. Aber das Endziel sind sicher Kartoffelerbsen. Die kochen dann bloß drei Minuten und werden samt Pelle verputzt.«

Dir, nicht mir, rannen Tränen, allerdings Lachtränen, übers Gesicht, sobald du meins ansahst, in dem sich nicht einmal die Mundwinkel hoben. Du schautest zu mir, dann wieder auf die runzligen, hier und da schon keimenden Kartoffeln, die dir, wie du meintest, die schönsten Stielaugen machten, und konntest dich gar nicht mehr beruhigen.

Zu Hause nötigte ich dich auf meine Matratze; du, noch immer lachend, ließest mich gewähren. Warst wohl auch geschmeichelt, weil ich dich so sehr wollte — und diesmal unbedingt bis zum Schluß in mir behalten. Doch als ich gekommen war, schnell wie meistens und heftig unter dem Druck von Eifersucht oder Verlustangst oder beidem, gelang es dir wieder, mich von der Palme zu holen, wie auch ich deine Interruptionstechnik mittlerweile nannte. Als übten wir für eine bodenakrobatische Darbietung, schobst du deine großen Hände in meine Achselhöhlen und stemmtest mich von dir weg. Aber ich wollte nicht schweben. Meine Schenkel hielten dich schraubstockfest; ich verlagerte mein ohnehin nicht geringes Gewicht ganz auf deinen Schwanz, der, wie ich deutlich spürte, die Spannung verlor und schrumpfte — und dagegen, das erregte mich stärker, als es der schon wieder abflauende Orgasmus vermocht hatte, war ich völlig machtlos. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit war derart überwältigend, daß ich fürchtete, es könnte mich in einen durch nichts mehr zu lösenden Krampf bannen. Möglich, daß du davon etwas mitbekommen hast, denn während mich deine eine Hand um so fester hielt, kraulten die Finger deiner anderen Hand jene Stelle oberhalb meines Bauches, an der ich kitzlig war wie nirgends sonst. Und die Starre, die mich ergriffen und begonnen hatte, mir die Muskeln zu verhärten, wich und verwandelte mich abermals: in ein zuckendes, lachendes Knäuel, das schließlich von dir runter- und noch eine ganze Weile allein auf der Matratze herumrollte. Du hattest dir ja den Bademantel umgehängt und dich in die Küche verzogen.

Wie immer, solange wir miteinander hausten, kamst du bald zurück. Einen Löffel zwischen den Zähnen, eine Schüssel voll Joghurt vor der Brust, hocktest du dich hin, schautest mich an, als wolltest du etwas sagen, und machtest auch den Mund auf, doch nur, damit der Löffel in den Joghurt fallen konnte. Ein netter Trick, den ich sonst gerne bewunderte; diesmal bewirkte er allerdings bloß, daß ich es endlich schaffte, wieder ernst zu werden.