Kurz vor sechs liefst du mir, eine Stofftasche über der einen deiner immer leicht nach vorn fallenden Schultern, lächelnd in die Arme.»Siehst nett aus«, sagtest du keine Spur verlegen und küßtest mich mit trockenen Lippen auf den Mund. Wir traten durch die Tür, begrüßten einen bulligen, nicht mehr ganz so jungen Kerl, der sein langes, dichtes Haar zu einer Art Nackendutt zusammengezurrt hatte und den du mir als» Tarik, den genialsten Autoschrauber von Kreuzberg «vorstelltest, und dann die Klingsbrüder, die auch schon da und bereits umgekleidet waren. Sie wirkten in den kastigen weißen Wickeljacken und den weiten, über den Knöcheln endenden Hosen noch gleicher und würfelförmiger.
Ich setzte mich zu einigen anderen, es waren ausschließlich Männer, die in mehr oder minder perfektem Schneider- oder Lotussitz am Rande des merkwürdig mit gekrümmten und gestrichelten blauen, gelben, schwarzen Linien bemalten Holzbodens Platz genommen hatten, und freute mich, daß ich noch immer gelenkig genug war und keinen Rock trug.
Sehr aufrecht, in geradezu würdevoller Haltung betratet ihr, also du und noch sieben weitere Männer, unter denen sich Tarik und die Klingsbrüder befanden, die Arena, wie ich den Ort des Geschehens mal nennen will, obwohl mir längst bekannt ist, daß ein Karateübungsraum Dojo heißt. Du sahst in dem weißen Zwirn, den dein breites Kreuz perfekt füllte, und mit dem über deinen schmalen Hüften geknoteten schwarzen Gürtel so umwerfend aus, wie du dann auch tatsächlich warst. Ihr begrüßtet mit einer knappen Verbeugung den Dojo und formiertet euch zu einer Reihe; du standest gleich neben einem an Armen, Händen, Füßen und selbst im Gesicht tätowierten, mit euch verglichen alten, drahtigen Asiaten, der kein Japaner oder Chinese zu sein schien, sondern eher ein Thailänder oder ein Kambodschaner. Dieser Mann, der, abgesehen von dir, der einzige war, der einen, allerdings breiteren, schwarzen Dan trug, rief euch etwas zu; heute weiß ich, daß es das Kommando» sheiza «war und auch, wie jene Kommandos lauten, die sheiza, dem Ritual gemäß, folgten. Daraufhin gingt ihr alle, erst mit dem linken, dann mit dem rechten Bein in die Knie, legtet die Hände auf die Oberschenkel und schautet nach vorn, aber niemanden an. Der Bunthäutige, offensichtlich der ranghöchste Meister, rief» mokuso«, und eure Lider schlossen sich, er rief» mokuso jame«, und ihr machtet die Augen wieder auf, neigtet eure Köpfe gegen den Asiaten, der, wie du mir später sagtest, tatsächlich Taiwanese war; er habe wegen» fortgesetzten Drogenhandels «für fünf Jahre mit dir in Tegel gesessen und sei während dieser Zeit dein Lehrer gewesen. Dem entbotet ihr den Gruß:»Sensei ni rei«. Dann grüßtet ihr euch untereinander, nahmt die Hände von den Schenkeln, schobt sie ein Stück über den Boden, legtet die Oberkörper nach vorn und verneigtet euch, hörbar ausatmend, noch einmal. Dann erst kamt ihr wieder auf die Füße, ebenso umständlich, wie ihr euch hingekniet hattet, verneigtet euch stehend ein letztes Mal und begannt mit der Gymnastik und schließlich sogar mit dem Training.
Ach, Harry, ich kann nicht behaupten, daß ich Augen nur für dich gehabt hätte. Auch manch anderer machte eine gute Figur, und selbst die Klingsbrüder wirkten nicht so albern wie sonst; doch du warst einfach anbetungswürdig. Wie hoch deine Füße flogen und wie sicher du auf ihnen landetest, wie geschmeidig du dich in den Hüften wandest, wie präzise deine Arme aus den Schultergelenken vorschnellten und wie elastisch du den Oberkörper zurückbogst, mit welcher Kraft du in die Höhe sprangst, dich drehtest und dabei das Bein abspreiztest und sekundenlang über dem Boden zu schweben schienst. Es sah aus wie Tanz; und voller Respekt beugte jeder deiner Gegner, du nanntest sie» Partner«, sobald er auf dich zutrat, seinen Kopf, und noch demütiger verneigtest du dich, wenn er sich, selbstverständlich besiegt, du würdest sagen» erfahrener«, wieder von dir entfernte.
Wieder wartete ich vor dem Karateclub Oyama auf dich, wieder fast ein halbe Stunde, und wieder kamst du mir entgegen, müde grinsend, das Haar noch feucht vom Duschen. Ich sah dich an, verzaubert wie im Sommernachtstraum, als wäre ich Titania, Lysander und Demetrius in einer Person.
Wir fuhren zu mir. Du ließest das Licht aus, legtest dich, ohne auch nur die Sandalen abzustreifen, auf deine Matratze und erhobst keine Einwände, als ich Friede, die sofort unter deine Bettdecke wollte, mit den Worten: das ist aber mein Platz, ergriff, in die Küche trug und, nachdem ich mir gleich am Kühlschrank ein paar Schlucke Wodka eingepfiffen hatte, die Tür hinter ihr schloß.
Ich war bereit, alles zu vergessen, wollte einzig und allein bei dir sein, deinen manchmal säuerlichen, doch heute fruchtigen Atem riechen, deine etwas bittere Haut schmecken, deine breite, kaum behaarte Brust berühren, deine kräftigen Schultern, Arme, Beine, deinen Schwanz. Ich schämte mich für das, was ich ihm angetan hatte, und für meine Panik, die womöglich nichts anderes war als Feigheit, Hypochondrie, erbärmliches Rumhängen an meinem eh schon halb vergurkten, ohne dich völlig ereignislosen Leben. — Ereignislos — Los, war das nicht ein Synonym für Schicksal? Was also war mein Los? Und hatte ich nur eines? Nahm ich nicht jedesmal, wenn wir uns nahekamen, ein neues? Und waren in dieser Lotterie nicht selbst die Nieten Hauptgewinne? Gewann ich nicht immer, sogar, wenn ich verlor: Einmal die Angst vor dem Tod, beim nächsten Mal die Angst vor dieser Angst, dann wieder die Angst, keine Angst zu haben, also ohne Schutz und wenigstens darin dir gleich zu sein, bis wir noch gleicher wären, aber nicht mehr hier … Über solche Gedanken, falls man die von drei sturzgetrunkenen Wodkas befeuerten, wie eingesperrte Zwergmarder in der Düsternis meines Schädels herumflitzenden Rudimente schlichtester Psychopolemik so nennen kann, steigerte ich mich hinein in eine — allerdings heroische — LMAA-Stimmung, die ja wirklich besser war als die waschlappig-grämliche Weder-festhalten-noch-gehen-lassen-Paralyse, mit der ich uns wochenlang terrorisiert hatte. Ab jetzt wollte ich richtig lieben, selbst-, also furchtlos. Und das konnte ich doch bei keinem besser lernen als bei dir, oder? Ich wollte mich aus der Hand und dir die Verantwortung übergeben. Ich wollte, daß endlich mal wieder etwas los war — und du eben meins — mit großem L, wie Liebe. Ich wollte nie mehr klein und feige sein, und ich wollte einen Orgasmus.
Du mußt gespürt haben, daß etwas anders war, oder wie früher, daß die Leidenschaft, mit der ich mich an dir erfreute, nicht gespielt war. Denn dein Gesicht glättete sich, was seltsamerweise dazu führte, daß du wacher wirktest, obwohl deine Augen geschlossen waren. Deine Lider zuckten, deine Lippen wurden weich und beweglich, so, wie es ihrer hübschen, vollen Form entsprach. Jetzt, da ich mich dieser Szene erinnere, verzeih, Harry, wenn ich das sage, ist mir, als hätte ich dich im Schnee gefunden und aufgetaut, dir meinen Atem eingehaucht, deine Glieder mit meinen warm gerieben; und du kamst tatsächlich zurück, aber nicht ganz. Ich wurde nach langem Kampf belohnt für unseren Eifer und hatte die Angst besiegt, doch nicht dich. Du schafftest es wieder, mich von der Palme zu holen, und dein» Pinocchio«, wie du ihn manchmal nanntest, hörte in meinen, nun wirklich nicht ungeschickten Händen auf zu lügen.
«Ärgere dich nicht«, sagtest du,»für einen Sempai ist das Glück, sich beherrschen zu können, größer als das Glück selber.«
Diesen Satz fand ich irgendwie blöd, aber doch interessant genug; zumal mit dem Orgasmus auch meine Euphorie abgeflaut war. Ich fragte dich, was genau ein Sempai sei und seit wann du schon Karate machtest. Du mochtest das Thema und fingst an zu schwärmen; daß du schon seit zehn Jahren dabei wärst und daß dir dein Können in Tegel eine Menge Respekt verschafft habe. Und eines Tages würdest du, wahrscheinlich zusammen mit den Klingsbrüdern, ein kleines Studio eröffnen, eine Karateschule für Jungs ab vierzehn.