Ich fragte dich, ob Elmar Kling hinter der Pappe stecke. Du gabst bloß zur Antwort, ich solle» die Flennerei lassen «und mir keine» unnützen Sorgen machen«. Die Vorstellung, daß du nun mobil warst, daß es noch schwerer würde, dich zu kontrollieren, quälte mich. Dein Lappen, so überzeugend er aussah, konnte nur gefälscht sein, und was du gerade tatest, war ganz sicher kriminell. Ich schloß die Augen und sah dich mit Dope vollgepumpt im Karatedress, neben dir dieser Tarik, auf den Rücksitzen die Klingsbrüder, durch eine mir unbekannte, regennasse, nächtliche Stadt brausen; Martinshörner jaulten, Schüsse knallten … Harry, sagte ich kleinlaut, könnten wir nicht noch irgendwo einen Schluck nehmen?
Wir landeten in einem Lokal namens Weltlaterne. Du bestelltest nur Limonade, weil du mich ja, wie du sagtest,»heil abliefern, dann aber weiter «müßtest. Ich kapierte, daß ich die Nacht ohne dich verbringen würde, und betrank mich aufs gründlichste.
Einige Tage später verschwandest du tatsächlich, für volle vierzehn Tage. Ich war besorgt, doch nicht erstaunt, denn ich hatte mit so etwas gerechnet. Oder hattest du gar davon gesprochen an dem Abend in der Weltlaterne? Ich ließ mehrmals täglich dein Telefon klingeln und fragte mich, was ich tun, wo ich dich suchen sollte, wenn du nicht bald zurückkämst. Aber dann, am Freitag nachmittag der zweiten Oktoberwoche, riefst du an, sagtest putzmunter, du seist» mit einem alten Freund in Hamburg, die große Freiheit schnuppern«. Als ich dir Vorwürfe machte, wissen wollte, wann wir uns wiedersehen, meintest du, dein» Klimpergeld «sei gleich alle, du würdest jetzt» Schluß machen«. Die Worte Klimpergeld und Schluß machen hallten in meinen Ohren lange nach; ich hätte platzen mögen vor hilfloser Wut.
Eben habe ich mir deinen Führerschein noch einmal angeschaut, mich daran erinnert, wie ich ihn, drei Jahre nachdem er, zusammen mit deinem Heft, deinem Reisepaß und noch ein paar Sachen, in meine Obhut gefallen war, einem Expolizisten zeigte, der einen Stock unter mir wohnte, doch längst woandershin gezogen und womöglich auch schon gestorben ist. Ich sagte dem alten Knacker, er hieß Karl Klawitter, daß dieses Dokument einem Freund gehöre und daß ich nicht genau wüßte, ob damit alles in Ordnung sei. Der Hauptwachtmeister a. D. stand ein wenig verwundert in seiner Tür, vermutete vielleicht, ich sei mal wieder betrunken und wolle ihn bloß auf den Arm nehmen, fühlte sich dann aber wohl geschmeichelt; er drückte sich die Brille gegen die Nasenwurzel und betrachtete das Dokument mit der gebotenen Sorgfalt. Lächelnd, die Rechte an einen imaginären Mützenschirm hebend, als habe er soeben eine Verkehrskontrolle durchgeführt und nichts zu beanstanden, händigte er mir deinen Führerschein schließlich wieder aus und sprach dabei die Worte:»Kein Zweifel, der ist echt. So echt wie Sie oder ich.«
Eigentlich schade, Harry, daß ich mit deinem» grauen Lappen «nie etwas anfangen konnte; zumal es mir ja nicht vergönnt war, selber einen zu machen.
XVI
Dann kam der Tag, an dem sich nochmals vieles änderte, aber nichts besser wurde — und auch nicht so, wie meine hysterische Phantasie es mir ausgemalt hatte. Was wirklich geschah, war banaler und … entsetzlicher, schrecklicher, fürchterlicher? Ich weiß kein Wort dafür; alle, die ich kenne, sind stumpf und blind, abgenutzte Suppenlöffel.
Weihnachten und Silvester, Anlässe, die weder dir noch mir viel bedeuteten, waren vergangen; wir schrieben das Jahr 1988. Du ließest dich wieder öfter bei mir blicken; sicher nicht aus neu erwachter Liebe, sondern einfach, weil deine Parterrehöhle eiskalt und nun selbst dir zu dunkel war.
Doch an jenem Freitag Mitte Januar wartete ich, obwohl wir verabredet gewesen waren, vergeblich auf dich. Es schneite, hatte schon gestern sehr viel geschneit und ich, bis es mir endlich mal gelungen war, dich zu erreichen, fleißig bei dir angerufen. Deine von Hustenanfällen unterbrochene Stimme hatte heiser geklungen, als du sagtest, das Getriebe deines Autos sei hin, deine Wasserleitung eingefroren, deine Laune im Keller. Komm doch, Harry, ich mach dir auch Brühnudeln, hatte ich dich gelockt, und spöttisch hinzugefügt: Oder willst du lieber ne Wärmflasche?» Geht leider nicht. Aber morgen gegen acht bin ich bei dir, Baby«, hattest du geantwortet und noch mal gehustet und dann aufgelegt.
Es war Freitag und acht Uhr längst vorüber; die Brühnudeln standen seit Stunden neben dem Herd, sogen sich voll mit der selbstgemachten Rindsbouillon, wurden immer weicher, breiter, blasser, quollen unaufhaltsam dem Rand meines größten Suppentopfes entgegen. Ich ließ dein Telefon klingeln, um neun, um zehn, um elf, um zwölf; du hobst nicht ab. Ich war eine Weile wütend und fragte mich, als die Wut der Angst wich und ich mir allerlei vorstellte, Unfall, Festnahme, Flucht, Überdosis, ob du deine Bude vielleicht doch schon verlassen hattest und irgendwo, irgendwie unterwegs warst, womöglich mit deinem kaputten Auto, auf glatten Straßen, durch den seit dem Morgen pausenlos fallenden Schnee. Oder mit der U-Bahn? Dann müßtest du in der nächsten halben Stunde eintreffen, und ich konnte meinen Mantel nehmen, dich abfangen auf dem halben Kilometer bis zum Bahnhof. Doch was, wenn du anriefst, während ich die Turmstraße entlanglief? Ich schrieb zwei Zettel, klebte einen an die Wohnungs- und einen an die Haustür und machte mich auf die Socken. Die letzte U9 aus deiner Richtung, die einzige, in der du noch sitzen konntest, kam halb eins. Ich blickte jedem, der mir begegnete, ins Gesicht; das heißt, ich versuchte es, aber der Flockenwirbel war so dicht, daß ich am liebsten laut gefragt hätte: Und du? Bist du etwa Harry? Durchgefroren und mit tränenden Augen erreichte ich den U-Bahnhof Turmstraße, sprang die Stufen hinunter, stellte mich ans Gleis, sah den letzten Zug einfahren, Menschen aussteigen; du warst nicht dabei. Ich rannte die Treppen wieder hoch, winkte einem Taxi, ließ es zu meinem Haus fahren und warten, stürzte auf den Hof, schaute nach, ob das Flurlicht brannte, ging, da alles finster war, zurück an die Haustür, ergänzte die dort klebende Notiz um den Satz: Bin unterwegs zu dir! kroch in das mollig warme Taxi, nannte dem Fahrer deine Adresse. Wir fuhren langsam und entsprechend lange, kamen an zwei verbeulten, von Polizisten und Sanitätern umringten Autos vorbei, redeten kaum ein Wort miteinander, denn ich durfte nicht rauchen.
Weil das Tor zu deinem Hinterhof ja niemals verschlossen war, versuchte ich gar nicht erst, an deiner Wohnungstür zu läuten, sondern lief gleich vor deine beiden Fenster, durch die kein Lichtschimmer fiel und die ich in jener Nacht sicher eingeschlagen hätte, wenn du nicht doch noch auf mein Klopfen und Rufen reagiert und deine Handflächen gegen die Scheibe gelegt und kurz dein, wie ich hoffte, nur von der Dunkelheit geisterhaft entstelltes Gesicht gezeigt und mir schließlich geöffnet hättest, nicht deine Wohnungstür, sondern eins deiner Fenster. Ich ging davon aus, daß du mir hineinhelfen würdest; aber als nichts dergleichen geschah, ich dich nicht einmal mehr sah, erklomm ich den Sims, blieb mit dem Mantel hängen, riß mich los, plumpste auf deinen Küchenfußboden, rappelte mich hoch, machte Licht, trat mit verhaltenem Atem ins Zimmer und an deine Matratze. Da lagst du, unter drei Decken, vollständig eingemummelt. Ich sank neben dir in die Knie, rief deinen Namen, zerrte die Decken etwas zurück, erblickte dein glühendes, verquollenes Gesicht und, da du mich einen Moment wie von weit her anstarrtest, deine glasigen, stark geröteten Augen. Ich legte dir meine Linke auf die Stirn. Du stöhntest, wohl weil meine Hand so kalt war; kaum zu sagen, ob du erschrakst oder Linderung empfandest. Ich tastete nach deiner Halsschlagader; deine Lider zuckten, dein dick verpackter Körper erschauerte. Du hattest hohes Fieber und mehrere T-Shirts und mindestens drei bis auf den obersten durchnäßte Pullover an. Mensch, Harry, sagte ich, was ist denn? Deine einzige Antwort war Zähneklappern, gefolgt von Stöhnen, trockenem Husten, dem glücklosen Versuch, dir die Decken wieder über den Kopf zu ziehen. Ich ging zurück in die Küche, schloß das Fenster, schaute mich um. Womöglich hattest du, als du noch einigermaßen bei Kräften gewesen warst, aus der Apotheke ein paar harmlose Medikamente besorgt, Aspirin, Hustensaft, vielleicht sogar ein Fieberthermometer. Ich entdeckte nichts Derartiges, griff mir das linnene, leidlich saubere Geschirrtuch, das ich in zwei Teile reißen, mit kaltem Wasser tränken und um deine Waden wickeln wollte; da fiel mein Blick auf den Bretterstapel, auf die beiden dort noch immer an der Wand lehnenden Geschenksets. Vor dem einen stand eine Dose Citrat, vor dem anderen ein Kerzenstummel, neben dem ein auseinandergefaltetes, leeres Stück Butterbrotpapier lag und vor diesem wiederum ein verbogener Löffel, in dem eine Schicht bräunlich verfärbter Watte klebte. Diesen denkwürdigen Augenblick, in dem deine Utensilien, die du offenbar nicht mehr hattest wegräumen können, meine letzten mühsam gehätschelten Zweifel restlos beseitigten, erlebte ich fast als Befreiung: Ich war eingeweiht, mit einem Bein dabei.