Ich hätte nicht genau begründen können, warum, aber du kamst mir verändert vor, so, als verstündest du nicht ganz, was geschehen war. Dein aufgekratzt-kindisches Gehabe befremdete mich; ich saß mit gesenktem Kopf an deinem Bett, schwieg und sah dich erst wieder an, als ich spürte, daß du mich ansahst. Deine Pupillen waren schwarz und tief wie Löcher; dein Blick lockte nicht, hatte dennoch etwas Anziehendes, ja, Magnetisches. Es war, wie soll ich es beschreiben, als schaute ich nicht in deine Augen, sondern in saugende Trichter.»Soja, du bist wie die meisten«, sagtest du,»starke Männer machen dich schwach, aber schwache, die machen dich stark. Und stark sein willst du doch, oder?«
In dem Moment öffnete sich knarrend die Tür; eine Schwester trat zwischen uns, rief» Entschuldigung«, stellte ein Tablett mit einem Schälchen Brei, zwei Zwiebackscheiben und einem Pott Tee auf deinem Nachtschränkchen ab.»Dann wollen wir mal schnell«, sagte sie, streifte sich ein Paar sehr dünner, hautfarbener Gummihandschuhe über, derart routiniert, daß mir unwillkürlich die Wörter Kondom und Hure in den Sinn kamen, lüpfte deine Bettdecke, meinte» bleiben Sie mal bitte so«, nahm aus einer Porzellanschale, die eine andere, plötzlich hinter ihr stehende Schwester in Händen hielt, eine fertig aufgezogene Spritze und drückte deren Inhalt in den rechten oberen Quadranten deiner linken Pobacke. Während sie mit einem Mullquadrat über die Einstichstelle rieb, zwinkerte sie mir schelmisch zu und sagte:»Das ist das Schöne an Leuten wie Ihrem Harry, die freuen sich wenigstens, wenn’s piekt.«
Die freche Schwester ermahnte mich noch,»ja nicht zu lange zu bleiben«, und wünschte uns einen guten Abend. Du sagtest» jetzt geben sie ne Weile Ruhe«, strecktest mir die Arme entgegen und strahltest mich an, als wärst du nicht eben noch ganz ernst gewesen, als wären die Worte, die du wenige Minuten zuvor gesprochen hattest und die ich, wie ich dir soeben bewies, bis heute behalten habe, nie gefallen.»Komm doch her«, batest du, wieder mit dieser kleinen, fast kindlichen Stimme,»leg dich zu mir, bis ich eingeschlafen bin, nur kurz. Dein Haary ist schon ganz müde.«
Ich zögerte, spürte zum ersten Mal, seit ich dich kannte, einen Anflug von Ekel. Ich schob es auf den Geruch, den du verströmtest — oder die bläuliche Flüssigkeit, die unaufhörlich in dich einsickerte, dich mit der nabelschnurartigen Plastikpipeline verband und mit diesem weichen, leise gluckernden, an einem galgenähnlichen Gestell hängenden Beutel, der schon — oder noch? — ein Teil deines Organismus zu sein schien. Aber ich überwand mich und kam zu dir. Du trugst eins dieser blöden, hinten offenen Hemdchen; ich schob meine Hand drunter, fühlte deinen festen, warmen, gleichmäßig atmenden Bauch und war augenblicklich so beruhigt, daß ich beinahe auch eingeschlafen wäre.
Wie ich vor meinem nächsten Besuch vom behandelnden Arzt erfuhr, hattest du eine atypische Lungenentzündung, genauer eine Pneumocystis carinii Pneumonie, und eine Pilzinfektion, die er Mykobakteriose nannte; die Zahl deiner T-Helferzellen lag bei knapp 600 pro Mikroliter Blut, und deine Leber schrumpfte. Wie sieht es aus für Harry, wenn die akuten Symptome erst mal abgeklungen sind, fragte ich.
«Für ihn? Nicht wirklich gut. Aber sehr interessant für uns«, antwortete lächelnd dein Arzt.
XVII
«Eines Morgens in aller Frühe«, wie es im Partisanenlied heißt, weckte mich Sturmklingeln; es war noch stockfinster, in dem Fenstersegment mir gegenüber keine Sterne, kein Mond. Und wenn ich, seit du im Krankenhaus lagst, nicht ohnehin schlechter als sonst geschlafen und an jenem Morgen nicht auch noch schlecht geträumt hätte oder wenn ich gar nicht dagewesen wäre, wer weiß, was dann passiert wäre.
Sie mußten schon eine Weile Krach gemacht haben, denn ich kann mich daran erinnern, daß in meinem Traum schwarze Sommernacht herrschte und daß wir beide durstig und zerlumpt an einem südlichen Strand saßen. Nichts als die Brandung war zu hören und das noch viel lautere Zirpen der Zikaden. Einige dieser Insekten flogen dicht an unseren Köpfen vorbei; ihre Flügelschläge verursachten Luftwirbel, die unsere Gesichter kühlten, was bedrohlich und doch angenehm war, weil vom Meer seltsamerweise nicht die kleinste Brise herüberwehte. Und eine Zikade kam direkt auf uns zu, und für ein paar Sekunden sah ich uns tausendfach gespiegelt in riesigen, fluoreszierenden Facettenaugen, im linken dich, im rechten mich … Aber schließlich sickerte mir ins Bewußtsein, daß die Geräuschintervalle nicht von irgendwelchen Monsterzikaden, sondern von meiner Klingel herrührten, also schlüpfte ich in meinen Bademantel, tappte barfuß zur Tür. Die draußen hatten wohl etwas bemerkt, jedenfalls aufgehört, das Knöpfchen zu martern, doch ihr Gewisper und die gespannte Atmosphäre hätten mich, wenn ich schon ganz bei Sinnen gewesen wäre, sicher gewarnt, mir signalisiert: Deiner harrt nichts Gutes.
Was ist los? rief ich.
«Nun beeilen Sie sich mal«, schrillte eine Frauenstimme zurück,»wir haben einen Rohrbruch!«
Noch immer benommen, machte ich mir Licht, hakte die Kette aus, öffnete — und starrte in drei Pistolenläufe. Neben der Polizistin, die mich mit der Rohrbruchfinte geleimt hatte, standen zwei ihrer Kollegen, einer in Zivil und einer in Uniform, die wie die Frau ihre Waffen auf mich gerichtet hielten, und hinter denen noch vier weitere Uniformierte mit Schlagstöcken. Ich hatte keine Zeit, mich an das Bild zu gewöhnen, denn drei der Polizisten stürmten an mir vorbei, und der Zivile drängte mich in den Flur, packte meinen Arm, dann meinen Nacken, so, daß ich mich umdrehen mußte, und sprach:»Gehen Sie. Vermeiden Sie jede plötzliche Bewegung. «Als er mich an der Wand hatte, kam das Kommando:»Beine auseinander und Hände über den Kopf!«Er befingerte mich von oben bis unten, insbesondere die Taschen meines Bademantels, schob dessen Ärmel zurück, betrachtete meine makellosen Armbeugen, verstaute seine Pistole in dem Schulterhalfter unter seinem Anorak und griff wieder nach meinem Genick. Ich war zu verblüfft, um etwas zu sagen oder zu fragen.
Im Zimmer angekommen, ließ ich mich auf meine noch warme Matratze fallen; der Zivilpolizist, dessen Hand in meinem Nacken klebte, als spielten wir Polonaise oder das Märchen von der goldenen Gans, setzte sich neben mich, streckte ächzend seine Beine von sich und knurrte:»So ist das mit eurer Sorte. Immer haust ihr entweder ganz unten oder ganz oben, aber vernünftige Betten habt ihr nie.«
Die blonde, etwas rundliche Polizistin und zwei von den anderen filzten mein Zimmer. Sie kramten in Schubladen, dem Nähkästchen, der Keksschachtel, durchwühlten die Kommode und den Kleiderschrank, stülpten Hosen-, Jacken-, Handtaschen um, schauten hinter die Ofentüren, fuhren prüfend über Buchrücken, zogen Kissen und Steppdecken aus der Bettwäsche und befühlten sie — Zentimeter für Zentimeter, so sorgsam, wie manche Frauen ihre Brüste nach eventuell vorhandenen Knoten abtasten.
Irgendwann fand ich die Sprache wieder: Zeigen Sie mir gefälligst Ihre Dienstmarken und den Durchsuchungsbefehl. Und was hoffen Sie eigentlich zu finden?
Die Polizistin antwortete knapp:»Durchsuchungsbefehl? Brauchen wir nicht, bei Gefahr im Verzug.«
Ihr ziviler Kollege, der meinen Nacken nun doch mal losließ, meinte:»Nicht Sie stellen hier die Fragen, erst einmal haben wir welche. Kommen Sie, wir setzen uns an den Tisch, ist auch besser fürs Protokoll.«
Ich hörte die anderen Polizisten in Küche und Kammer rumoren und sagte bissig: Na, prima. Da kann ich uns allen ja gleich noch ne schöne Kanne Kaffee kochen, falls Ihre Genossen die Tüte nicht ausgekippt und das Pulver über den Fußboden verstreut haben.
«Genossen ist gut«, sagte mein Bewacher,»und Tüten auch. Doch jetzt mal zur Sache. Woher kannten Sie den Herrn Rademacher?«
Rademacher? Ich hatte keine Ahnung, von wem der sprach.