Neben Regalen mit Konservendosen und Flaschen enthielt die geräumige Speisekammer einen komplizierten Apparat, den Travis und Nora gebaut hatten, um die Verständigung mit dem Hund zu erleichtern. Das Gerät stand an der hinteren Wand: sechsundzwanzig Schächte aus durchsichtigem Plastik, zweieinhalb mal zweieinhalb Zentimeter im Querschnitt, waren nebeneinander in einem hölzernen Rahmen angebracht. Jeder der Schächte war etwa einen halben Meter hoch, oben offen und unten mit einer Klappe versehen, die mit einem Pedal betätigt wurde. In den Schächten waren Buchstabensteine aus sechs Scrabble-Spielen aufgestapelt, so daß Einstein über genügend Vorrat verfügte, um auch längere Botschaften zu formulieren. An der Vorderseite eines jeden Schachtes war von Hand ein Buchstabe aufgemalt, der den Inhalt anzeigte: A, B, C, D usw. Einstein konnte Buchstaben aus den Schächten holen, indem er auf die Pedale trat, und die Steine dann mit der Nase auf dem Boden der Speisekammer zu Worten zusammenschieben. Satzzeichen würden sie sich selbst dazudenken. Sie hatten sich dafür entschieden, den Apparat dort, außer Sichtweite, unterzubringen, um nicht etwa unerwartet ins Haus kommenden Nachbarn seinen Zweck erklären zu müssen.
Während Einstein sich geschäftig ans Werk machte, die Pedale zu betätigen und die Buchstabensteine aneinanderzuschieben, trug Travis sein Bier und die Wasserschüssel des Hundes auf die vordere Terrasse, wo sie Noras Ankunft erwarten wollten. Als er zurückkam, war Einstein gerade mit einer Botschaft fertig.
KÖNNTE ICH HAMBURGER HABEN? ODER WIENER? Travis meinte: »Ich werde mit Nora zu Mittag essen, wenn sie heimkommt. Willst du nicht warten und mit uns essen?« Der Retriever leckte sich die Lefzen und überlegte. Dann studierte er die Buchstaben, die er bereits benutzt hatte, schob einige davon beiseite und benutzte den Rest sowie ein B, ein L sowie ein V, die er aus den Schächten holen mußte.
OK. ABER ICH BIN HALB VERHUNGERT.
»Du wirst es schon überleben«, erklärte Travis. Er sammelte die Buchstabensteine ein und sortierte sie von oben wieder in die entsprechenden Schächte ein.
Dann holte er sich die Schrotflinte mit dem Pistolengriff, die er neben die Hintertür gestellt hatte, trug sie auf die Terrasse und lehnte sie dort neben seinen Schaukelstuhl. Er hörte, wie Einstein das Licht in der Speisekammer ausschaltete und ihm folgte.
Dann saßen sie in besorgtem Schweigen da - Travis in seinem Schaukelstuhl, Einstein auf den Redwoodbohlen des Bodens.
Singvögel trällerten in der milden Oktoberluft.
Travis nippte an seinem Bier, Einstein schlabberte gelegentlich von seinem Wasser, dann starrten sie wieder die Einfahrt hinunter zu den Bäumen und zur Landstraße hinüber, die sie von hier aus nicht sehen konnten.
Nora hatte im Handschuhfach ihres Toyota eine .38-Pistole, die mit Hohlspitzkugeln geladen war. In den Wochen, die verstrichen waren, seit sie Marin County verlassen hatten, hatte sie Fahren gelernt und sich mit Travis' Hilfe im Umgang mit der .38er geübt, ebenso mit einer vollautomatischen Uzi-Ma-schinenpistole und einer Schrotflinte. Heute hatte sie nur die .38er mit, aber für die Fahrt nach Carmel mußte die reichen.
Außerdem wollte der Outsider, selbst wenn er sich ohne Einsteins Wissen bereits in die nähere Umgebung eingeschlichen hatte, vor allem den Hund. Sie war also relativ sicher.
Aber wo blieb sie nur?
Travis wünschte sich jetzt, er wäre mit ihr gefahren. Aber nach dreißig Jahren eines Lebens in Abhängigkeit und Furcht gehörten Fahrten nach Carmel ohne Begleitung zu den Dingen, mit denen sie ihre neue Stärke, ihre Unabhängigkeit und ihr Selbstbewußtsein bestätigte - und auf die Probe stellte. Seine Gesellschaft wäre ihr nicht willkommen gewesen.
Um halb zwei, als Nora bereits eine halbe Stunde überfällig war, kam in Travis ein unangenehmes, bohrendes Gefühl auf. Einstein begann unruhig auf und ab zu laufen.
Fünf Minuten später war der Retriever der erste, der den Wagen von der Hauptstraße in den Zufahrtsweg einbiegen hörte. Er hetzte die Verandatreppe hinunter und wartete am Rand der Zufahrt.
Travis wollte Nora nicht merken lassen, daß er beunruhigt gewesen war, weil das mangelnde Vertrauen in sie bedeutet hätte, mangelndes Vertrauen in ihre Fähigkeit, selbst auf sich aufzupassen, eine Fähigkeit, die sie tatsächlich besaß und sehr hoch einschätzte. Also blieb er in seinem Schaukelstuhl sitzen, die Flasche Corona in der Hand.
Als der blaue Toyota auftauchte, seufzte er erleichtert. Als sie am Haus vorbeifuhr, hupte sie. Travis winkte, als hätte er nicht unter einer bleiernen Decke der Furcht dagesessen. Einstein lief zur Garage, um sie zu begrüßen, und eine Minute später tauchten sie beide wieder auf. Sie trug Blue-jeans und ein gelb-weiß-kariertes Hemd, aber für Travis war sie gut genug angezogen, um inmitten mit Schmuck behängter Prinzessinnen in Abendkleidern über eine Tanzfläche zu schweben.
Sie trat neben ihn, beugte sich zu ihm herunter und küßte ihn. Ihre Lippen waren warm.
»Hab' ich dir schrecklich gefehlt?« fragte sie.
»Ohne dich war keine Sonne, kein Trällern der Vögel, keine Freude.« Er sagte es scherzhaft, locker, und doch kam es fast ernst heraus.
Einstein rieb sich an ihr und winselte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und dann blickte er mit schiefgelegtem Kopf zu ihr auf und wuffte leise, als wollte er sagen: NUN?
»Er hat recht«, sagte Travis. »Du bist nicht fair. Mach es nicht so spannend.«
»Ich bin«, sagte sie.
»Du bist?«
Sie grinste. »Schwanger.«
»Ach du liebe Güte!« sagte er.
»Guter Hoffnung. Gesegneten Leibes. In anderen Umständen. Eine künftige Mutter.«
Er stand auf und legte die Arme um sie, hielt sie an sich gedrückt und küßte sie und sagte: »Doktor Weingold irrt wohl nicht?«
Darauf sie: »Nein, er ist ein guter Arzt.«
Und Travis: »Er muß dir doch gesagt haben, wann es soweit ist.«
»Wir können das Baby in der dritten Juniwoche erwarten.« Travis darauf dümmlich: »Schon im nächsten Juni?«
Sie lachte und sagte: »Ich habe nicht vor, dieses Baby ein ganzes zusätzliches Jahr mit mir herumzutragen.«
Schließlich bestand Einstein darauf, auch eine Chance zu bekommen, sich an sie zu drücken und sein Entzücken zum Ausdruck zu bringen.
»Ich hab' uns eine eisgekühlte Flasche Schampus zum Feiern mitgebracht«, sagte sie und hielt ihm eine Tüte hin.
Als er in der Küche die Flasche aus der Tüte nahm, sah er, daß es moussierender Apfelmost war, alkoholfrei. »Ist das keine Feier, die den besten Champagner verdient?« fragte er. Während sie Gläser aus dem Schrank holte, meinte sie: »Wahrscheinlich benehme ich mich kindisch, die Weltmeisterin der Angst... Aber ich will nichts riskieren, Travis. Ich hatte nie gedacht, daß ich einmal ein Baby haben würde, nie gewagt, davon zu träumen. Und jetzt habe ich dieses dämliche Gefühl, daß es mir nie bestimmt war, es zu haben, und daß man es mir wegnehmen wird, wenn ich nicht jede denkbare Vorsichtsmaßregel treffe und nicht alles ganz genau richtig mache. Also werde ich keinen Schluck mehr trinken, bis es es geboren ist. Ich werde nicht zuviel rotes Fleisch essen, dafür mehr Gemüse. Geraucht hab' ich nie, also macht mir das keine Sorgen. Ich werde genausoviel zunehmen, wie Doktor Weingold mir gesagt hat, und ich werde meine gymnastischen Übungen machen und das perfekteste Baby zur Welt bringen, das die Welt je gesehen hat.«
»Natürlich wirst du das«, sagte er und füllte die Weingläser mit Apfelmost und schüttete etwas davon für Einstein in eine Schüssel.
»Nichts wird schiefgehen«, sagte sie.
»Nichts«, sagte er.