Unterdessen waren die Ermittlungen, die sich mit der Ermordung der Banodyne-Wissenschaftler befaßten, praktisch zum Stillstand gekommen. Jene zweite NSA-Einsatzgrupe war aufgelöst worden. Offensichtlich hatten die Sowjets Außenstehende für diese Morde angeheuert, und es gab keine Möglichkeit, herauszufinden, wen sie dafür eingesetzt hatten.
Ein von der Sonne tief gebräunter Mann in weißen Shorts und einem T-Shirt schlenderte an Lem vorbei und sagte: »Herrlicher Tag heute!«
»Da nehm' ich Gift drauf!« sagte Lem.
5
Am Tag nach Thanksgiving kam Travis in die Küche, um sich ein Glas Milch zu holen, und sah, daß Einstein ununterbrochen nieste. Aber er dachte sich nicht viel dabei. Auch Nora, die sich gewöhnlich viel schneller als Travis um das Wohlbefinden des Retrievers sorgte, fand nichts dabei. In Kalifornien ist der Pollenflug im Frühjahr und Herbst ziemlich heftig, aber da das Klima eine zwölfmonatige Blüte erlaubt, gibt es keine Jahreszeit, die ganz frei ist von Pollen. Und das Leben im Wald machte die Situation sogar noch schlimmer.
In jener Nacht weckte Travis ein Geräusch, das er nicht bestimmen konnte. Sofort war er hellwach, setzte sich in der Dunkelheit auf und griff nach der Schrotflinte, die neben dem Bett auf dem Boden lag. Mit der Mossberg in der Hand, lauschte er, und nach ein oder zwei Minuten kam es wieder. Aus dem oberen Flur.
Er glitt aus dem Bett, ohne Nora zu wecken, und ging vorsichtig zur Tür. Der Flur draußen war wie die meisten Räume im Haus mit einem schwachen Nachtlicht ausgestattet, und im fahlen Schein sah Travis, daß das Geräusch von dem Hund kam. Einstein stand am Treppenansatz, hustete und schüttelte dauernd den Kopf.
Travis ging zu ihm, und der Retriever blickte auf. »Bist du okay?«
Ein schnelles Schweifwedeln: JA.
Er beugte sich vor und zerzauste dem Hund das Fell. »Ganz bestimmt?«
JA.
Eine Minute lang drängte sich der Hund an ihn und genoß es, gestreichelt zu werden. Dann wandte er sich von Travis ab, hustete ein paarmal und ging die Treppe hinunter.
Travis folgte ihm. In der Küche fand er Einstein vor seiner Schüssel, Wasser schlürfend.
Nachdem er die Schüssel geleert hatte, ging der Retriever in die Kammer, schaltete das Licht ein und begann Steine aus den Kunststoffschächten zu befördern.
DURSTIG.
»Bist du auch ganz sicher, daß dir nichts fehlt?«
JA. DURSTIG. TRAUM HAT MICH GEWECKT.
Überrascht sagte Travis: »Du träumst?«
DU NICHT?
»Ja. Viel zuviel.«
Er füllte die Wasserschüssel des Retrievers wieder auf, und Einstein leerte sie erneut, worauf Travis sie zum zweitenmal füllte. Jetzt hatte der Hund genug. Travis rechnete damit, daß er hinauswollte, um zu pinkeln, aber der Hund ging statt dessen wieder hinauf und machte es sich vor der Schlafzimmertür bequem, wo Nora immer noch schlief.
Im Flüsterton sagte Travis: »Hör zu, wenn du reinkommen und neben dem Bett schlafen willst, dann ist das schon in Ordnung.«
Genau das wollte Einstein. Er rollte sich auf Travis' Seite auf dem Boden ein.
In der Dunkelheit konnte Travis die Hand ausstrecken und sowohl die Schrotflinte als auch Einstein berühren. Die Anwesenheit des Hundes verschaffte ihm mehr Beruhigung als die Waffe.
6
Am Samstagnachmittag, genau zwei Tage nach Thanksgiving, stieg Garrison Dilworth in seinen Mercedes und fuhr langsam von seinem Haus weg. Zwei Straßen weiter wußte er, daß die NSA ihn noch immer beschattete. Es war ein grüner Ford, wahrscheinlich derselbe, der ihm letzten Abend gefolgt war.
Sie hielten reichlichen Abstand, und sie waren vorsichtig -aber er war schließlich nicht blind.
Er hatte Nora und Travis immer noch nicht angerufen. Weil man ihm überallhin folgte, argwöhnte er, daß man auch seine Telefone angezapft hatte. Er hätte zu einer öffentlichen Telefonzelle fahren können, aber er hatte Angst, die NSA könnte das Gespräch mit einem Richtmikrofon oder irgendeinem anderen Produkt der modernen Technik belauschen. Und wenn sie es fertigbrachten, die Wähltöne aufzuzeichnen, die er erzeugte, während er die Nummer der Cornells eintastete, dann konnten sie diese Töne leicht in Ziffern umsetzen und die Nummer in Big Sur ausfindig machen. Er würde sich irgendein Täuschungsmanöver einfallen lassen müssen, um ungefährdet Kontakt mit Travis und Nora aufnehmen zu können.
Er wußte, daß er sich beeilen mußte, damit nicht Travis oder Nora ihn vorher anriefen. Heutzutage konnte die NSA mit der ihr zur Verfügung stehenden Technik einen Anruf ebenso schnell zu seinem Ursprungsort zurückverfolgen, wie Garrison brauchte, um Travis zu sagen, daß die Leitung angezapft sei. Und so fuhr er am Samstagnachmittag um zwei Uhr, den grünen Ford im Geleit, zu Della Colbys Haus in Montecito, um sie zu einem faulen Nachmittag in der Sonne auf seinem Boot, der >Amazing Grace<, abzuholen. Zumindest hatte er ihr das am Telefon gesagt.
Della war die Witwe von Richter Jack Colby. Sie und Jack waren fünfundzwanzig Jahre lang seine und Francines besten Freunde gewesen, bis der Tod sie auseinandergerissen hatte. Jack war ein Jahr nach Francine gestorben. Della und Garrison hielten engen Kontakt; sie gingen häufig miteinander zu Abend essen, gingen tanzen, machten gemeinsame Spaziergänge und segelten miteinander. Zu Anfang war ihre Beziehung rein platonisch gewesen; sie waren einfach alte Freunde, die das Glück - oder das Unglück - hatten, die überdauert zu haben, die ihnen etwas bedeutet hatten. Und sie brauchten einander, weil sie so viele angenehme Erinnerungen teilten, die verblassen würden, wenn es niemanden mehr gab, mit dem man in ihnen schwelgen konnte. Vor einem Jahr, als sie sich plötzlich zusammen im Bett gefunden hatten, waren sie überrascht und von Schuldgefühlen überwältigt gewesen. Es war ihnen, als verrieten sie damit ihre Partner, obwohl Jack und Francine schon vor Jahren gestorben waren. Die Schuldgefühle vergingen natürlich, und jetzt waren sie einfach dankbar für die Gesellschaft und die sanft brennende Leidenschaft, die unerwarteterweise ihre spätherbstlichen Tage erhellte.
Als er in Dellas Einfahrt bog, kam sie aus dem Haus, versperrte die Haustür und eilte zu seinem Wagen. Sie trug Bootsschuhe, weiße Hosen, einen blau-weiß-gestreiften Sweater und eine blaue Windbluse. Sie war neunundsechzig und ihr kurzes Haar jetzt schneeweiß, aber sie sah um fünfzehn Jahre jünger aus.
Er stieg aus dem Mercedes, umarmte sie, gab ihr einen Kuß und sagte: »Können wir mit deinem Wagen fahren?«
Sie riß die Augen auf: »Hast du mit dem deinen Ärger?«
»Nein«, sagte er. »Ich würde nur lieber deinen nehmen.«
»Also gut.«
Sie fuhr ihren Caddy rückwärts aus der Garage, und er stieg auf der Beifahrerseite ein. Als sie in die Straße einbog, sagte er: »Ich fürchte, mein Wagen ist verwanzt, und ich möchte nicht, daß die hören, was ich dir zu sagen habe.«
Der Ausdruck, mit dem sie ihn ansah, war zum Malen.
Er lachte und meinte: »Nein, ich bin nicht über Nacht senil geworden. Wenn du beim Fahren in den Rückspiegel siehst, wirst du merken, daß man uns verfolgt. Die sind ziemlich gut und äußerst gerissen, aber unsichtbar sind sie nicht.«