Je besser Nora James Keene kennenlernte, desto mehr mochte sie ihn. Trotz seines mürrischen Aussehens war er ein äußerst lockerer Mensch und besaß die Gabe, sich über sich selbst lustig zu machen. Die Liebe, die er für Tiere empfand. war wie ein Licht in ihm. Hunde waren seine größte Liebe und wenn er über sie sprach, dann verwandelte die Begeiste-rung seine unattraktiven Züge und machte einen äußerst sympathischen Mann aus ihm.
Der Arzt erzählte ihnen von dem schwarzen Labrador King, der ihn als Kind vor dem Ertrinken gerettet hatte, und ermunterte sie, ihm zu erzählen, wie Einstein ihnen das Leben gerettet habe. Travis erzählte ein farbige Geschichte von einer Bergwanderung, bei der er auf einen verletzten und zornigen Bären gestoßen war. Er schilderte, wie Einstein ihn zuerst gewarnt und dann, als der halb wahnsinnige Bär anfing, ihn zu verfolgen, das Tier herausgefordert und einige Male in die Flucht geschlagen hätte. Nora konnte eine Geschichte erzählen, die der Wahrheit näherkam: Belästigung durch einen Sexualpsychopathen, dessen Angriff Einstein unterbrach, der den Eindringling dann so lange festhielt, bis die Polizei eintraf.
»Er ist ja wirklich ein Held!« sagte Keene beeindruckt.
Nora fühlte, daß die Geschichten über Einstein den Tierarzt so völlig auf ihre Seite gezogen hatten, daß er, falls er die Tätowierung entdeckte und wußte, was sie bedeutete, das möglicherweise verdrängen und sie in Frieden gehen lassen würde, sobald Einstein wieder genesen war. Falls Einstein genas.
Aber als sie dann damit beschäftigt waren, die Teller einzusammeln, fragte Keene: »Sam, ich frage mich schon die ganze Zeit, warum Ihre Frau Sie eigentlich >Travis< nennt.«
Darauf waren sie vorbereitet. Seit sie eine neue Identität angenommen hatten, hatten sie beschlossen, daß es für Nora einfacher und sicherer wäre, ihn weiterhin Travis zu rufen, anstatt zu versuchen, die ganze Zeit Sam zu gebrauchen und dann in irgendeinem entscheidenden Augenblick doch einen Fehler zu machen. Sie konnten sagen, Travis sei ein Spitzname, den sie ihm einmal gegeben habe und dessen Ursprung sehr privater Natur sei; indem sie einander zuzwinkerten und albern grinsten, könnten sie andeuten, das Ganze habe intime Hintergründe und sei zu peinlich, um näher erklärt zu werden. Also beantworteten sie auch Keenes Frage in dieser Weise, aber sie waren nicht in der Stimmung, überzeugend zu zwinkern und albem zu grinsen, deshalb war Nora nicht sicher, ob sie ihn wirklich überzeugt hatten. Tatsächlich dachte sie, ihr nervöses und etwas ungeschicktes Gehabe könnte Keenes Argwohn, falls er solchen hegte, eher noch steigern.
Kurz bevor er am Nachmittag seine Praxis wieder öffnen wollte, erhielt Keene einen Anruf seiner Assistentin, die, als sie zum Mittagessen ging, Kopfschmerzen gehabt hatte und ihm jetzt mitteilte, daß noch eine Magenverstimmung dazugekommen sei. Dies bedeutete, daß der Tierarzt sich allein um seine Patienten kümmern mußte, und so bot Travis ihm seine und Noras Unterstützung an.
»Wir haben natürlich keine tierärztliche Ausbildung. Aber Sie können uns ja irgendwelche Hilfsarbeiten zuteilen.« »Sicher«, pflichtete Nora ihm bei. »Und außerdem haben wir beide zusammengenommen ein ganz gut funktionierendes Gehirn. Wenn Sie uns also zeigen, wie wir es anpacken sollen, könnten wir alles mögliche erledigen.«
Sie verbrachten den Nachmittag damit, widerspenstige Katzen, Hunde, Papageien und alle möglichen anderen Tiere festzuhalten, während Jim Keene sie behandelte. Es gab Verbande aufzubreiten, Arzneimittel aus den Schränken zu holen, Instrumente zu säubern und zu sterilisieren, Honorare entgegenzunehmen und Quittungen auszuschreiben. Einige Patienten hinterließen auch Spuren von Durchfall und Erbrechen, die beseitigt werden mußten. Aber Travis und Nora unterzogen sich auch solch unangenehmer Pflichten ebenso klaglos, wie sie die anderen Aufgaben erledigten. .
Dafür hatten sie zwei Gründe. Der erste war natürlich der, daß sie, indem sie Keene assistierten, den ganzen Nachmittag Gelegenheit hatten, mit Einstein in der Praxis zusammen zu sein. Wenn sie zwischendurch nicht beschäftigt waren, stahlen sie sich ein paar Augenblicke davon, um den Retriever zu streicheln, ihm ein paar aufmunternde Worte zu sagen und sich davon zu überzeugen, daß sein Zustand sich nicht verschlechterte. Andererseits konnten sie, indem sie dauernd mit Einstein zusammen waren, zu ihrer Betrübnis sehen, daß sein Zustand sich auch keineswegs besserte.
Zweitens gab ihnen ihre Mitarbeit die Möglichkeit, sich bei dem Tierarzt beliebt zu machen und ihn damit dazu zu bewegen, seine Entscheidung nicht noch einmal zu überdenken, sie die Nacht über bei sich bleiben zu lassen.
Der Andrang an Patienten war wesentlich größer als üblich - wie Keene sagte -, und daher konnten sie die Praxis erst nach sechs Uhr schließen. Die Müdigkeit - und die gemeinsam verrichtete Arbeit - erzeugten ein warmes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Während sie das Abendessen zubereiteten und dann auch gemeinsam einnahmen, unterhielt Jim Keene sie mit zahlreichen Tiergeschichten aus seiner reichen Erfahrung, und sie fühlten sich fast so behaglich und wohl, als das der Fall gewesen wäre, wenn sie den Tierarzt schon seit Monaten anstatt nur weniger als einen Tag lang gekannt hätten.
Keene richtete ihnen das Gästeschlafzimmer her und gab ihnen ein paar Decken, mit denen sie sich auf dem Boden der Praxis eine primitive Liegestatt bereiten konnten. Travis und Nora hatten vor, abwechselnd im richtigen Bett zu schlafen und jeweils die andere Hälfte der Nacht auf dem Boden in Einsteins Gesellschaft zu verbringen.
Travis hatte die erste Schicht von zehn Uhr bis drei Uhr morgens. Nur eine einzige Lampe in einer Ecke der Praxis brannte, und Travis saß entweder auf den übereinandergelegten Decken neben Einstein oder er streckte sich auf den Decken aus.
Gelegentlich schlief Einstein. Sein Atem klang dann normaler, nicht so beängstigend. Dann wiederum war er wach, seine Atemzüge hörten sich schrecklich gequält an, und er winselte vor Schmerzen und - das spürte Travis - vor Angst. Travis redete auf ihn ein, erinnerte ihn an gemeinsame Erlebnisse, an die vielen schönen Augenblicke und die guten Zeiten in den letzten sechs Monaten, und der Klang von Travis' Stimme schien den Retriever wenigstens etwas zu beruhigen.
Da der Hund sich überhaupt nicht bewegen konnte, war er notwendigerweise inkontinent und urinierte zweimal auf die mit Plastik überzogene Matratze. Travis machte ohne jeden Ekel und mit dem gleichen Mitgefühl sauber, wie ein Vater es für ein schwerkrankes Kind getan haben würde. In gewisser Weise war Travis sogar froh, denn jedesmal, wenn Einstein pinkelte, war das ein Beweis dafür, daß er noch lebte und sein Körper in einer Hinsicht noch so normal funktionierte wie eh und je.
Im Laufe der Nacht regnete es ein paarmal. Das Trommeln der Regentropfen auf das Dach stimmte traurig.
Während dieser ersten Schicht tauchte Jim Keene zweimal in Pyjama und Morgenrock auf. Das erstemal untersuchte er Einstein gründlich und wechselte die Infusionsflasche aus. Beim zweitenmal verpaßte er ihm nach der Untersuchung eine Injektion. Beide Male versicherte er Travis, daß im Augenblick keine Besserung zu erwarten sei; im Augenblick reiche es, daß es im Zustand des Hundes keine Anzeichen von Verschlechterung gäbe.
Während der Nacht ging Travis mehrere Male ans andere Ende des Raumes, um zu lesen, was auf einer gerahmten Schrifttafel über dem Ausguß zu lesen stand:
LOBLIED AUF EINEN HUND Der einzige absolut selbstlose Freund, den der Mensch in dieser selbstsüchtigen Welt haben kann, der einzige Freund, der ihn nie verläßt und sich ihm gegenüber nie undankbar oder treulos erweist, ist sein Hund. Eines Menschen Hund steht in Wohlstand und Armut an seiner Seite, in gesunden und in kranken Tagen. Er wird auf der kalten Erde schlafen, im eisigen Wind und Schnee des Winters, nur um an der Seite seines Herrn und Meisters zu sein. Er wird die Hand küssen, die ihm keine Nahrung anbieten kann; er wird die Wunden und Schrammen lecken, die die rauhe Welt schlägt. Er behütet den Schlaf seines armen Herrn, als wäre dieser ein Fürst. Und wenn alle anderen Freunde ihn verlassen: Er bleibt zurück. Und wenn der Reichtum vergeht, der Ruf zuschanden wird, seine Liebe bleibt so beständig wie die Sonne auf ihrer Reise über das Himmelszelt.