Vielleicht fünf Minuten lang, von gespenstischer Vorahnung erfaßt, daß gleich etwas von welterschütternder Bedeutung geschehen werde, folgte Travis dem Hund, zeigte ihm die Umschläge von einem Dutzend Romanen und lieferte dazu jeweils in ein, zwei Sätzen eine Kurzbeschreibung des Inhalts. Er hatte keine Ahnung, ob es das war, was der altkluge Köter wollte. Ganz bestimmt konnte er die Zusammenfassungen, die er ihm lieferte, nicht verstehen. Und doch schien er ihm wie gebannt zuzuhören. Er wußte, daß er zielloses, tierisches Verhalten grundsätzlich falsch auslegte, dem Hund komplexe Absichten zuschrieb, die die5er gar nicht hatte. Trotzdem verspürte er das Prickeln einer Vorahnung im Nacken. Und während ihre eigenartige Suche weiterging, erwartete Travis fast, es werde jeden Augenblick irgendeine verblüffende Offenbarung geben - und kam sich gleichzeitig immer einfältiger und alberner vor.
Travis' Geschmack bezüglich Romanliteratur war weitgespannt. Unter den Bänden, die er von den Regalen nahm, waren Bradburys >Das Böse schleicht auf leisen Sohlen< und Chandlers >Der lange Abschiede Cains >Die Rechnung ohne den Wirt< und Hemingways >Inseln im Sturm<. Zwei Bücher von Richard Condon und eines von Ann Tyler. Dorothy Sayers' »Mord braucht Reklame< und Elmore Leonards >52 Pick-up<.
Endlich wandte sich der Hund von den Büchern ab und trottete in die Mitte des Raumes, wo er sichtlich erregt hin und her wanderte. Dann blieb er stehen, schaute Travis an und bellte dreimal.
»Was ist denn. Junge?«
Der Hund winselte, schaute zu den überladenen Regalen hin, wanderte im Kreis, blickte wieder hin zu den Büchern. Er schien enttäuscht zu sein. Zutiefst enttäuscht.
»Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun soll, Junge«, sagte Travis. »Ich weiß nicht, worauf du/aus bist, was du mir sagen willst.«
Der Hund schnaubte und schüttelte sich. Dann senkte er niedergeschlagen den Kopf, kehrte resigniert zum Sofa zurück und ringelte sich auf den Kissen ein.
»Ist das alles?« fragte Travis. »Geben wie jetzt einfach auf?« Den Kopf flach auf das Sofa legend, musterte er Travis mit feuchten, seelenvollen Augen.
Travis wandte sich von dem Hund ab und ließ den Blick langsam über die Bücher wandern, so als würden diese nicht nur die Informationen liefern, die auf ihren Seiten gedruckt standen, sondern als enthielten sie auch eine wichtige Botschaft, die nicht so leicht abzulesen war: als wären ihre bunten rücken fremdartige Runen einer lange vergessenen Sprache, die, einmal entziffert, wunderbare Geheimnisse offenbaren würden. Aber er konnte sie nicht entziffern.
Travis, der geglaubt hatte, er stehe an der langen Schwelle einer großen Entdeckung, fühlte sich ungeheuer im Stich gelassen, Seine eigene Enttäuschung war noch viel schlimmer als das, was der Hund hier geliefert hatte; er konnte sich nicht so wie der Retriever einfach auf dem Sofa einrollen, den Kopf in die Kissen drücken und das Ganze vergessen.
»Was, zum Teufel, sollte das alles?« fragte er.
Der Hund blickte unergründlich zu ihm auf.
»Hatte das Getue mit den Büchern irgendeinen Sinn?«
Der Hund starrte ihn an.
»Ist an dir etwas Besonderes - oder ist mir das Gehirn ausgelaufen?«
Der Hund lag reglos und schlaff da, als würde er jeden Augenblick die Augen schließen und einschlafen.
»Wenn du mich jetzt angähnst, verdammt noch mal, bekommst du einen Tritt.«
Der Hund gähnte.
»Scheißköter!« sagte Travis.
Er gähnte wieder.
»Also bitte! Was soll das jetzt? Gähnst du, weil ich das gesagt habe und weil du dein Spiel mit mir treibst? Oder gähnst du einfach so! Wie soll ich das, was du tust, auslegen? Wie soll ich wissen, ob etwas davon eine Bedeutung hat?«
Der Hund seufzte.
Travis seufzte ebenfalls, ging an eines der vorderen Fenster und starrte in die Nacht hinaus, wo der schwachgelbe Schein der Natriumdampf-Straßenlampen die federartigen Wedel der ausladenden kanarischen Dattelpalme von hinten beleuchtete. Er hörte, wie der Hund vom Sofa sprang und aus dem Raum eilte, verzichtete aber darauf, seinen Aktivitäten nachzugehen. Für den Augenblick konnte er keine weitere Enttäuschung brauchen.
Der Retriever machte in der Küche Lärm. Ein Klirren. Dann ein schwaches Klappern. Travis nahm an, daß er aus seiner Schüssel trank.
Sekunden später hörte er ihn zurückkommen. Er kam an seine Seite und rieb sich an seinem Bein.
Travis schaute hinunter und entdeckte zu seiner Überraschung, daß der Retriever eine Dose Bier zwischen den Zähnen hielt. Er nahm die dargebotene Dose und stellte fest, daß sie kalt war.
»Die hast du aus dem Kühlschrank geholt!«
Der Hund schien zu grinsen.
2
Als Nora Devon in der Küche das Abendessen zubereitete, Klingelte das Telefon wieder. Sie betete, daß nicht er anriefe.
Aber er war es. »Ich weiß, was Sie brauchen«, sagte Streck.
„Ich weiß, was Sie brauchen.«
Ich bin nicht einmal hübsch, wollte sie sagen. Ich bin eine ganz gewöhnliche, verbaute alte Jungfer, was wollen Sie also von mir? Ich bin vor Leuten wie Ihnen sicher, weil ich nicht hübsch bin. Sind Sie blind? Aber sie konnte nichts sagen.
»Wissen Sie, was Sie brauchen?« fragte er.
Jetzt fand sie endlich ihre Stimme und sagte: »Lassen Sie mich in Frieden.«
»Ich weiß, was Sie brauchen. Sie wissen es vielleicht nicht, aber ich weiß es.«
Diesmal legte sie als erste auf, knallte den Hörer so kräftig hin, daß es ihm im Ohr weh getan haben mußte.
Später, um halb neun, läutete das Telefon wieder. Sie saß im Bett, las Dickens' >Große Erwartungen und aß Eiskrem. Als der Apparat das erste Mal anschlug, erschreckte sie das so, daß ihr der Löffel aus der Hand und in die Schale fiel und sie ihren Nachtisch fast verschüttet hätte,
Sie stellte die Schale weg, legte das Buch hin und starrte das Telefon auf dem Nachttisch angstvoll an. Sie ließ es zehnmal klingeln, fünfzehnmal. Zwanzigmal. Das schrille Geräusch erfüllte den Raum, hallte von den Wänden wider, bis jeder einzelne Klingelton sich in ihren Schädel zu bohren schien. Schließlich wurde ihr klar, daß sie einen großen Fehler machte, wenn sie sich nicht meldete. Er würde wissen, daß sie hier war und Angst davor hatte, den Hörer abzunehmen, und das würde ihm Vergnügen bereiten. Ihn verlangte es vor allem anderen danach. Macht auszuüben. Gerade ihr furchtsames Sichzurückziehen würde ihn ermutigen. Nora hatte keine Erfahrung im Austragen von Duellen, aber sie begriff, daß sie lernen mußte, für sich einzutreten - und zwar schnell.
Beim einunddreißigsten Klingeln nahm sie den Hörer ab. Streck sagte: »Ich kann einfach nicht aufhören, an Sie zu denken.«
Nora gab keine Antwort.
Streck sagte: »Sie haben schönes Haar. So dunkel. Fast schwarz. Dicht und glänzend. Ich möchte mit den Händen durch Ihr Haar fahren.«
Sie mußte jetzt etwas sagen, um ihn in die Schranken zu weisen - oder auflegen. Aber sie brachte weder das eine noch das andere fertig.
»Ich habe nie Augen gesehen wie Ihre«, sagte Streck. Sein Atem ging schwer. »Grau, aber nicht wie andere graue Augen. Tiefgründig, voll Wärme und sexy.«
Nora war unfähig zu sprechen, war wie gelähmt.
»Sie sind sehr hübsch, Nora Devon. Sehr hübsch. Und ich weiß, was Sie brauchen. Wirklich, das weiß ich, Nora. Ich weiß, was Sie brauchen, und ich werd' es Ihnen geben.«
Ihre Starre löste sich, weil sie plötzlich unkontrolliert zu zittern anfing. Sie ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Sie beugte sich im Bett nach vom, es war ihr, als würde sie in Einzelteile zerfallen, bis das Zittern langsam aufhörte.